BMC Urs im Test

Nachdem ich im Sommer diesen Jahres philosophiert und endlich - für mich selbst und nach langem Überlegen - rausgefunden habe, was "Gravel" eigentlich bedeutet, welche Möglichkeiten damit verbunden sind und wohin die Reise gehen könnte, geht es nun um das Material an sich. Dass ich mit den Versuchen, meinen Crosser umzubauen gescheitert bin, lasse ich hinter mir. Vor mir liegen hingegen einige Ideen und Projekte, bei deren Realisierung ich mich gerne eines tatsächlichen Gravel-Bikes bedienen würde - wo nämlich weder Rennrad, Crosser noch MTB-Hardtail 100% hineinpassen. Die Rede ist von längeren Touren, Bikepacking und einem Vordringen in die Berge, ohne dabei größere Kompromisse eingehen zu müssen und gleichzeitig sowohl auf Asphalt als auch auf Schotter- und Waldwegen gleichsam gut vorwärts zu kommen.

Auf die Unterschiede zwischen den Radkategorien bin ich schon an anderer Stelle eingegangen, ebenso auf die Frage ob man unbedingt ein weiteres (spezifisches) Rad braucht (grundsätzlich Nein) oder ob man das nicht auch mit dem Crosser fahren könnte (grundsätzlich Ja). Belassen wir es dabei, dass Präferenzen und Vorlieben unterschiedlich sind, jede und jeder ohnehin für sich selbst entscheiden sollte, was sie oder er braucht und will. Am besten probiert man diese Dinge auch selbst aus, so wie ich das in Osttirol mit meinem Crossbike versucht habe und erst dort - im direkten Einsatz - draufgekommen bin, was ich "brauche" und welches Material dafür am besten geeignet ist.

Apropos selbst versuchen... Während meines Selbstversuchs im Sommer war das neue BMC Gravelbike gerade erst ein paar Wochen vorgestellt. Das Konzept war damals schon vielversprechend und ehrlicherweise hatte ich das Rad schon zu diesem Zeitpunkt ein bisschen in meinem Hinterkopf. Nun konnte ich „URS“ für einige Ausfahrten testen und dabei genau jene Punkte abklopfen, die ich auf meiner geistigen To-Do-Liste gespeichert hatte. Um das, was ich mir vorab zusammengesponnen hatte, zu verifizieren oder mich eines besseren belehren zu lassen.

URS

Urs ist zweifellos Schweizer, sein Name bezieht sich allerdings nicht auf den Bären (Ursus) sondern ist ein Buchstabenwort aus "Unrestricted" und damit der Verweis auf das "Anything goes" und die übergreifenden Disziplinen, die das Rad abdecken soll.

Was unterscheidet jetzt aber URS von den bisherigen - und von mir eher kritisch gesehenen - Gravelbikes, bei denen tendenziell nur breitere Reifen in einen bestehenden Rennradrahmen gehängt wurden?

Am wichtigsten ist wohl die spezielle Geometrie und diese spielt sich in erster Linie an der Front ab. Der Lenkwinkel ist sehr flach, um mehr Laufruhe und eine gute Basis im Gelände zu haben. Die dadurch entstehende Schwerfälligkeit in der Lenkung verhindert BMC durch einen kurzen Vorbau, der die entsprechende Reaktionsfähigkeit des Vorderrads sicherstellt. Im Großen und Ganzen kennt man das von modernen Mountainbike-Geometrien (nicht nur bei BMC), den eigentlichen Ursprung hat der Trend bei den Enduro-Bikes.

Der Rahmen ist eine Neu-Entwicklung und kein adaptierter Rennradrahmen. Die serienmäßig montierten 42mm WTB-Reifen belegen die enorme Reifenfreiheit. Wie auch einige andere Hersteller verbaut BMC ein Federungssystem am Hinterbau, um den Komfort im Sattel noch weiter zu erhöhen. Dabei kommt - wie auch schon bei den Teamelite MTB-Modellen von BMC - ein Elastomer-Element zum Einsatz, dass zwischen Sitzstreben und Sitzrohr unliebsame Schläge abfedern soll. Der Rahmen weist außerdem noch einige gravel- oder geländespezifische Merkmale auf, die das Leben einfacher und sicherer machen sollen: Protektoren für den Rahmen, zusätzliche Ösen und Schrauben für Taschen und Zubehör, eine Kabelführung in der Gabel für einen möglichen Nabendynamo und vieles mehr.

Je nach Ausstattungsvariante kommen noch weitere Goodies dazu: Carbon-Felgen fürs Gelände von DT-Swiss, offroad-spezifische Schaltgruppen, und und und. Ebenfalls abhängig von Modell und Ausstattung ist das Gewicht, das Topmodell fühlt sich mit seinen etwas über 8 Kilogramm beim ersten Mal Anheben erstaunlich leicht an, was natürlich auch der Performance während der Fahrt zugute kommt.

Die Varianten des URS

URS startet bei 2.999 Euro für das Modell "Four" und gipfelt mit 8.999 Euro bei URS "One".

Die Antriebe sind durchwegs als "1x" spezifiziert, je nach Gruppe bekommt man damit 11 oder 12 Gänge. Die Kompatibilität von Cross-, Rennrad und MTB-Gruppen ermöglicht es heutzutage ohne weiteres, einzelne Komponenten unterschiedlicher Gruppen zu kombinieren und dabei auch elektronische Schaltungen einzusetzen (beim URS One und Two). Bei der Übersetzung überrascht, dass nur das Topmodell eine größere Bandbreite bietet, 38x50 ermöglicht auch in steileren Gefilden noch eher ein Fortkommen als 40x42. Die Farben sind grundsätzlich Geschmackssache, gefallen - mir persönlich - aber in ihrer Schlichtheit sehr gut. Die Kontrastfarben an den Gabelholmen sorgen für etwas Abwechslung. Neben Rahmen und Gabel teilen sich auch alle Modelle die gleichen Reifen von WTB mit einer Breite von 42mm.

Meine Eindrücke - URS in Aktion!

Schon nach wenigen Metern merkt man, dass man sich nicht auf einem "verkleideten" Rennrad befindet. Nahe am Crosser aber dennoch anders in der Geometrie, der Straßenlage, Laufruhe und Charakteristik. Auch wenn man vermeintlich nicht geglaubt hat, dass zwischen Rennrad und Crosser noch Platz ist, der URS füllt hier definitiv eine Lücke. Und dass es sich dabei um keine rein marketing-kreierte Lücke handelt merkt man, wenn man mit URS ins Gelände abbiegt. Zugegebenermaßen sind es Feinheiten, aber je länger man im Sattel sitzt und je vielseitiger die Einsatzbereiche sind, umso mehr fallen diese Kleinigkeiten ins Gewicht.

Der Rahmen ist sehr steif und gibt gutes Feedback. Alleine schon der Blick auf den massiven Tretlagerbereich gibt Auskunft über Stabilität und Steifigkeit bei kurzen Antritten als auch bei längerem Krafteinsatz. Verwindungen sind vom Rahmen her keine zu spüren, die Direktheit endet hier (naturgemäß) eher bei den breiten Reifen.

Die Geometrie ist speziell - wie oben schon erwähnt, wird durch den flachen Lenkwinkel der Vorbau kürzer, dadurch wiederum das Oberrohr länger. Wer mit der Anschaffung eines URS liebäugelt, sollte daher aus meiner Sicht vorher den Händler aufsuchen und dort gemeinsam die Maße besprechen. Blindlings die gleiche Größe wie bei anderen Rädern zu nehmen, kann unter Umständen problematisch werden. Mit meinen 1,94 m Körpergröße und einem langen Oberkörper stellt die Wahl der richtigen Größe bei mir grundsätzlich und fast immer eine Herausforderung dar - ich sitze meistens zwischen den beiden Stühlen "Large" und "X-Large". Die Geschichte mit dem flachen Lenkwinkel kenne ich schon von meinem MTB, daher weiß ich halbwegs, wie ich die veränderten Werte in der Geometrie zu interpretieren habe und was diese für die Position auf dem Rad bedeuten. Das "XL" wäre mir in der Praxis oben etwas zu lang und damit würde ich gefühlt einiges an Wendigkeit verlieren, das "L" ist mir oben fast schon etwas zu kurz, dafür fühlt es sich wendig und agil an. (Zum Glück hat PBike einen schlauen Computer mit meinen Körperdaten, um mir bei der Größenwahl zu helfen!)

Um noch kurz beim Rahmen zu bleiben, dieser hat im Tretlagerbereich viel Bodenfreiheit und bietet damit entsprechend viel Spielraum, um über Dinge drüberzufahren oder sich zumindest nicht das Kettenblatt an Mauern, Steinen oder Wurzeln zu beleidigen.

Die Flaschenhalter im Rahmendreieck sind tief positioniert, damit entsteht viel Raum, der zum Beispiel für eine Rahmentasche genützt werden kann. Und - speaking of Bikepacking - URS macht natürlich auch eine hervorragende Figur im Adventure Modus, wenn man außerdem noch Sattel- und Lenkertasche dazumontiert. Zwei Gewinde im vorderen Bereich des Oberrohrs erlauben außerdem noch, dort eine kleine Zusatztasche mitzuführen. So kann der Mehrtagestrip kommen!

Damit eine Lenkertasche oder -Rolle zwischen den Drops Platz hat, werden von BMC Lenker mit "Flare" verbaut, bei denen also die Lenkerenden nach außen gebogen sind. Weiterer Benefit dieser Lösung ist eine bessere Kontrolle über das Rad in schnellen Offroad-Passagen. Lenker mit Flare sind allerdings auch Geschmackssache, so bin ich beispielsweise kein Fan davon und würde bei meinem URS einen konventionellen Lenker draufschrauben. Mich irritiert die Griffposition eher, als dass ich einen wirklichen Nutzen erkennen könnte. Außerdem bin ich bestimmte Griffpositionen vom Rennrad gewöhnt, die ich so auch auf einem URS beibehalten wollte. Und letztlich sind in Unterlenkerposition auch die Schalthebel nicht mehr so gut erreichbar, da diese ebenfalls entsprechend nach außen geneigt sind.

Ansonsten gibt es allerdings am Cockpit absolut nichts auszusetzen: volle Integration aller Leitungen und Kabel, ein aufgeräumtes Erscheinungsbild und die schöne Halterung für Wahoos, Gopros, Garmins und sonstiges Zubehör, die bei integrierten BMC-Vorbauten ohnehin immer dabei ist.

Auf den ersten Blick fällt natürlich das Federelement im Hinterbau auf. BMC hat schon einiges an Erfahrung mit dieser Technologie bei seinen Mountainbikes gesammelt. Es gibt keine offiziellen Angaben über den Federweg oder dergleichen, in der Praxis sieht man das Element jedoch in Bewegung und ein paar Millimeter weit wird da jedenfalls gearbeitet. Die tatsächlichen Federeigenschaften zu beurteilen ist aus meiner Sicht nicht wirklich möglich, da ein weitaus größerer Anteil des Komforts im Sattel aus der ewig langen Sattelstütze und den breiten Reifen kommt, wobei man bei letzteren ja zusätzlich auch noch kräftig am Luftdruck schrauben kann. Insgesamt federt der Hinterbau Schläge und Unebenheiten sehr gut ab, auch Roubaix-artige Kopfsteinpflaster-Passagen fühlen sich so etwas weniger schlimm an. Die Tatsache, dass dem Elastomer im Hinterbau keine Dämpfung gegenübersteht, bedeutet, dass es mitunter zu einem minimalen "Hoppeln" kommen kann, vor allem wenn man in einem leichten Gang unterwegs ist und recht dynamisch mit dem Körper mitarbeitet. Verdirbt nicht den Spaß und kommt auch nur in besonderen Konstellationen vor, Abhilfe kann ein anderes Elastomer-Element schaffen, diese sind nämlich in drei unterschiedlichen Härtegraden erhältlich.

Die WTB-Reifen weisen eine Breite von 42 Millimetern auf, während Crosser traditionell (und regelbedingt) meistens "nur" auf 33ern anrollen. Ich persönlich hätte nicht für möglich gehalten, welchen Unterschied diese zusätzlichen 9 Millimeter ausmachen, sowohl was Komfort als auch Grip angeht. Man kann den Luftdruck noch einmal etwas senken, hat damit in geradezu allen möglichen und unmöglichen Situationen ausreichend Haftung und kann auf diese Weise durch Sandfelder, über groben Schotter und alles andere pflügen, was sich einem in den Weg stellt. Aber auch der Speed auf Asphalt war für diese Reifenbreite eine positive Überraschung und bestärkt mich darin, das Rad als Allzweckgerät für alle Untergründe zu sehen. 

Einige Gravelbikes am Markt bieten die Möglichkeit, 650B-Laufräder zu montieren, um die Vielseitigkeit noch weiter zu erhöhen. Beim URS ist das nicht der Fall, allerdings sehe ich dafür eigentlich auch keinen wirklichen Grund. Auf etwas Unverständnis stößt bei mir, dass BMC zum einen das Schraubenmaß der Steckachsen von 5mm auf 6mm (Inbus) erhöht hat und gleichzeitig keinen Adapter bzw. Hebel zum Lösen der Schraube mehr beilegt. Für den Reifenwechsel während einer meiner Testfahrten war daher die Einkehr in ein Lagerhaus notwendig, um den entsprechenden Inbus auszuborgen, mein Multitool endet - wie viele andere übrigens auch! - bei einem 5er-Inbus. Bei der Gelegenheit - und hier bin ich tatsächlich zu 100% selbst schuld - möchte ich auch noch erwähnen, dass man auch die entsprechenden Schläuche für 42mm-Reifen mitführen sollte. Die Rückfahrt auf einem 28mm-Schlauch war wenig erbaulich... 

Die Schaltung an dem von mir getesteten Topmodell (SRAM XX Eagle AXS Schaltwerk hinten und Red ETAP AXS Schalthebel vorne) funktioniert im Gravel-Einsatz hervorragend. Die Schalthebel von SRAM bieten - im Gegensatz zu Shimano - eine weitaus größere Fläche, sodass man auch mit Handschuhen oder "in der Hitze des Gefechts" einfacher schalten kann. Die zur Verfügung stehenden zwölf Gänge bieten eine große Übersetzungsbandbreite, vor allem das 50er-Ritzel hinten dient entweder als Rettungsring oder als Ermöglicher hoch hinausführender Abenteuer. Wie bei allen 1x-Antrieben sind die Gangsprünge teilweise merklich groß, sodass man ab und zu in die Situation kommt, dass weder der höhere noch der niedrigere Gang so richtig passt. Wer hochalpine Ausflüge oder Reisen mit viel Gepäck im Sinn hat, kann vorne auf ein kleineres Kettenblatt wechseln, damit erhöht sich die Kletterfähigkeit weiter. Schade finde ich, dass nur das Topmodell ab Werk eine größere Übersetzung mitbringt, die höhere Flexibilität würde sicher auch den anderen Modellen zugute kommen.

Als Abschluss sei noch erwähnt, dass URS ein richtiger Eyecatcher ist! Das ist einerseits seiner speziellen Form geschuldet - jeder der genauer hinsieht und vielleicht das Federelement erspäht, erkennt das Spezielle und Ungewohnte an diesem Rad. Ein anderer Faktor ist, dass auf dem gesamten Rad nur ein einziger, zwei Zentimeter großer BMC-Schriftzug angebracht ist, nämlich vorne am Steuerrohr. Keine Logos, keine Schriftzüge und Sticker erzeugen Neugier und Interesse, außerdem bekommt das Rad dadurch ein elegantes und schlichtes Auftreten. Lob an BMC auch für das Selbstvertrauen, nicht das komplette Rad mit Aufschriften zuzukleistern. 

Fazit!

In meinen Augen und nach einigen Ausfahrten auf unterschiedlichem Terrain hat BMC hier tatsächlich etwas Neues geschaffen. URS füllt eine Lücke, die man in der Regel zwar erst finden muss, die in meinem persönlichen Radleben allerdings prominent aufklafft und bis jetzt weder durch Crosser, Rennrad oder Hardtail gefüllt werden konnte.

Auf losem und groben Schotter, auf Waldwegen und Fortstraßen spielt URS seine Stärken aus. Viel Grip kommt von den Reifen, der Komfort aus Federung und Sattelstütze verschont den Fahrer und die Fahrerin und die Geometrie lädt tatsächlich zum Spielen ein - diese Böschung hinauf, hier in den Graben hinunter, warum nicht da drüber... Spaß und Radfahren sind in meinen Augen untrennbar verbunden, mit diesem Rad erweitert man die potentiellen Freundenquellen.

Bei größeren Steinen, Wurzeln und Felsen merkt man die Grenzen des Rades, die Wege bleiben natürlich fahrbar aber man ist langsamer unterwegs als mit einem MTB, muss sich gut um die Linienwahl kümmern und die Muskulatur ermüdet schneller. Auf der Straße hingegen - und mit anderen Reifen sowieso - kann URS auch für einen flotte Rennradrunde herhalten.

Foto: Nora Freitag

Was also fahren mit dem URS? Am besten alles, gleichzeitg und abwechselnd, in einem Urlaub, wo man gerne ein Rad für alles mithaben möchte, auf der Langstrecke, mit Gepäck und Satteltaschen, auf dem Weg zum Nachtlager der Dreitages-Tour, auf Forststraßen und Waldwegen, in den Bergen, wo sanfte Schotterwege dominieren, beim Crossrennen, bei der Gruppenausfahrt am Wochenende auf der Straße. "Unrestricted" hat natürlich auch seine Grenzen aber URS lotet sie auf sympathische Weise aus.

Der Preis für URS ist ein beträchtlicher, 3.000 Euro für ein Rad sind viel Geld. Wer schon fünf Räder in seiner Wohnnug stehen hat, wird sich eventuell schwer tun, noch die richtige Nische zu finden. Wer allerdings nach einem Rad sucht, mit dem man im wesentlichen alles machen kann - und zwar alles konkurrenzfähig - der sollte sich URS näher ansehen. Mir haben die Tage mit URS (außer einem kaputten Schlauch) viel Freude bereitet und ich weiß jetzt, mit welchem Rad ich einige meiner Projekte 2020 in Angriff nehmen möchte ;)

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BMC
PBike

Dem Gravel-Trend auf der Spur

Im November werde ich 40 Jahre alt, das befähigt mich – neben einem kurzen Schauer des Älterwerdens - zu einigen spannenden Dingen. 1. Ich kann mich bei schlechten Leistungen zunehmend auf mein Alter ausreden. (Scherz, mach ich natürlich nicht – an meinen schlechten Leistungen sind immer noch Chemtrails und Freimaurer schuld). 2. Ich starte bei Wettbewerben in der ersten Masters-Klasse. Nicht, dass das platzierungstechnisch auch nur irgendeinen Vorteil mit sich bringen würde, aber aus der Allgemeinen Klasse „rausgewachsen“ zu sein, gibt einem manchmal ein Gefühl von altersbedingter Souveränität und Gelassenheit. Und 3. kann ich nun Geschichten mit „Damals…“ und „In meiner Jugend war das ja noch…“ beginnen. Die Gelegenheit zu Letzterem möchte ich heute auch gleich beim Schopf packen und brandaktuell über ein Erkenntnis des vergangenen Wochenendes berichten, das ich im Sattel meines (ehemaligen) Crossers in Osttirol und Kärnten verbracht habe.

Damals…

„In meiner Jugend“ also, bestand mein erster Rad-Kontakt darin, die Serien SLX-Bremsen an meinem Hardtail gegen die rote John Tomac-Sonderedition von Magura zu tauschen, die grünen Reifen (waren das Schwalbe-Modelle?) aufzuziehen, die damals so „in“ waren und mit meinen Freunden nach der Schule den Anninger bei Mödling rauf- und runterzufahren. Es war wohl 1996, das heißt es war gut 15 Jahre her, dass in Kalifornien die Herren Ritchey, Breeze und Fisher ihre damaligen Räder umfunktionierten, den Mount Tamalpais runterfuhren und damit – wohl eher unabsichtlich – eine Bewegung starteten, die in den folgenden Jahren ihren Lauf nahm, zum Boom wurde und Mitte der Neunziger Teenager wie mich dazu brachte, mit dem Rad ins Gelände zu fahren. Der alljährlich im Jänner erscheinende „Bike“-Katalog war die Bibel, aus der man sich die einzelnen Teile für sein oder ihr Traumbike zusammensuchte: Klein Attitude, GT Zaskar oder gar das - damals noch ganz arge - Trek OCLV (?) Full Suspension. Während diese Traum-Konfigurationen damals schon Summen erreichten, die auch heute noch als „stolz“ zu bezeichnen wären, war mein fahrbarer Untersatz ein eher profanes Merida Alu-Bike - Hardtail natürlich, von Federgabeln und dergleichen konnte ich damals nur träumen. Die Reifen hatten Dimensionen, die man heute eher am Crosser findet. Auf den Wald- und Forstwegen bedeutete das, sich die Fahrlinie suchen zu müssen, nicht – mir nichts, dir nichts – einfach über jede Unebenheit drüberradieren zu können, mit dem Körper zu arbeiten, aufmerksam zu sein. Es war eine recht puristische Form des Radfahrens, wenn man sich heutige Maßstäbe vergegenwärtigt.

Gute 20 Jahre später – heute! – schaut der Fahrradmarkt anders aus als damals – fragmentiert bis segmentiert, jedenfalls aber spezialisiert. Nahezu jede Nische ist besetzt, jede Entwicklung wird ausgereizt, ob sie das Zeug zum „Trend“ hat, sogenannte „Standards“ dienen allen möglichen Zwecken, aber sicher nicht jenem, etwas über Grenzen hinweg zu standardisieren. Recht präsent und das seit mittlerweile mehreren Jahren ist das Schlagwort „Gravel“. Was damit im Detail umschrieben ist, bleibt mitunter eher unklar. Fest steht, dass im Geburtsland dieses Trends – den USA – die Rennradfahrer den großen Highways ausweichen wollten und anstelle von pittoresken Land(es)straßen wie bei uns, in den Weiten Amerikas nur geschotterte Wirtschaftswege vorfanden, um dort ihrem Hobby zu fröhnen. Damit man trotzdem wie auf dem schnellen Rennrad unterwegs ist, wurde das Gravel-Rad aus der Taufe gehoben - Rennradgeometrie aber mit mehr Reifenfreiheit. In europäischen Gefilden rümpfte man die Nase und zeigte auf den Crosser, der vor allem im nördlicheren Europa immer schon ein guter Weg war, um quasi rennradartig durch den Winter zu kommen. Schaut man sich allerdings die Geometrie des Crossers an, stößt man (abhängig vom Modell natürlich!) auf Unterschiede: so hat der Crosser ein höher liegendes Tretlager und vor allem einen anderen Lenkwinkel und damit ein anderes Fahrverhalten – enge und eckige Crossrennen verlangen nun einmal mehr Wendigkeit als eine kilometerlange Schottergerade. Der Crosser-Markt der letzten Jahre ist in sich wiederum segmentiert, wobei man grob jene Modelle unterscheiden kann, die (aggressiv) für Cross-Rennen angelegt sind (Specialized Crux, Stevens Super Prestige) oder jene, die eine Art Zwitter zwischen Cross-Rennen und leichten Waldwegen aber auch Long-Distance-Commutern darstellen. Die (negativ formuliert) Unentschlossenheit oder aber (positiv formuliert) Vielseitigkeit dieses Teilbereichs wurde auch durch die unterschiedlichen Optionen deutlich, die diese Räder im Aufbau boten: Ösen für Gepäckträger, Schmutzfänger, 1-fach, 2-fach, mitunter sogar noch 3-fach-Option, unterschiedliche Laufradgrößen – man wollte sich bewusst alle Türen offen halten.

Crosser vs. Gravel

Ich habe meinen Crosser (ein Specialized Crux E1) Ende 2015 gekauft und es im Jahr darauf mit großem Enthusiasmus durch ein paar Cyclocross-Rennen bewegt - mit dabei war die letzte Austragung des Münchner Supercross-Rennens unter der Flagge von Rapha. Die Erfolge waren bescheiden, das Gewand sehr schnell sehr dreckig, der Spaß groß! Den Einsatzbereich dieses Rades aber auf die wenigen Cross-Rennen zu reduzieren, wäre schade gewesen. So war ich im Winter im Schnee, bei gutem und schlechtem Wetter in der Lobau unterwegs, auf Schotter-Radwegen und auf Wirtschaftswegen südlich von Wien. Alle diese Aufgaben bewältigte mein Crosser anstandslos. Nächster Schritt waren die Wege meiner Jugend - auf den Anninger, aufs Eiserne Tor aber auch in den Wienerwald, auf den Bisamberg – wohin mich Strava auch immer führt. Auf diesen Waldwegen und Trails stellte sich ein nostalgisches Gefühl ein – jenes, auf dem Mountainbike meiner Jugend unterwegs zu sein. Die Kraftübertragung aber auch die Spürbarkeit des Untergrunds waren sehr direkt, auch hier musste ich mir genaue Gedanken über die Fahrlinie machen, ohne Federung waren außerdem höhere Aufmerksamkeit und Sorge notwendig. Es machte großen Spaß, ich fühlte mich wie ein Purist, der einem alten Geheimnis auf der Spur ist, einer Erfahrung, wie sie heute nicht mehr bekannt ist. Ich sah mich zu Sätzen verleitet wie „Im Wienerwald kann man doch eh alles mit dem Crosser fahren“, „dafür braucht man kein MTB“ oder „das MTB hebt man sich besser für die richtigen Berge auf“. Dass ich diese Sätze jetzt, da ich auch wieder ein modernes Mountainbike mein Eigen nenne, lautstark und ohne Reue revidiere, liegt daran, dass es mit dem Crosser zwar Spaß gemacht hat, mit dem MTB ist es aber noch um ein Vielfaches lustiger. Und ich rede hier grundsätzlich nicht von Auswüchsen des MTB-Marktes mit >160mm Federweg, sondern von modernen Hardtails oder Fullys mit 100 oder 120mm Federweg. Diese sind gewichtsmäßig leicht und bis ins mittelschwere Gelände meiner Meinung nach die beste Wahl. Für Ausfahrten ins Gelände (im Sinne von Mountainbiken) nehme ich daher mein Mountainbike, der Crosser bleibt dafür in der Ecke stehen.

Parallel dazu sind aber neue Horizonte aufgetaucht – Abenteuer, Bikepacking, Langstreckenfahrten und –rennen. Man hörte Slogans wie „Anyroad“, „Allroad“, „go everywhere – fast“ und „no limits“. Die Industrie witterte einen neuen Trend und zog mit, nahm das neue und noch klein vor sich hin blühende Segment „Gravel“ und zeichnete eine Zukunft, in der man ohne ein Gravel-Touring-Bike nicht mehr existieren kann, im Gegenteil: aus dem Alltag erfolgreich ausbrechen kann, seine Grenzen überwinden und neue Abenteuer erleben wird. Alles reizvolle Ausblicke und ich selbst habe mich liebend gerne in diesen Träumen wiedergefunden und mache das auch heute noch - auch wenn es an der Umsetzung bis jetzt noch gescheitert ist. Teilnahmen an Transcontinental Races oder aber auch „einfache“ Overnighter hier in Österreich sind Dinge, die sich auf allen To-Do Listen gut machen! Gehen wir nochmal zum Anfang des Artikels zurück und damit auch zu den Anfängen des Mountainbikes. Den Fahrer und die Fahrerin von Zwängen zu befreien, die Möglichkeiten zu erweitern, fahren zu können, wo man will – egal auf welchem Gelände, das war das Ziel der Pioniere des Mountainbikes. Mit den ersten Hardtails der 90er-Jahre haben sie dieses Ziel einen Schritt weit erreicht. Die Entwicklung des Mountainbikes ist allerdings in eine Richtung abgebogen, die nicht mehr unbedingt diesem Freiheitsgedanken, sondern vielmehr der Ausarbeitung und Weiterentwicklung des Segments „MTB“ entsprochen hat. Den Freiheitsgedanken findet man heutzutage – auch nach Abzug des üblichen Marketing-Sprechs – viel eher im wachsenden Segment der Gravel- und Adventure-Bikes wieder. Unter diesem Gesichtspunkt ist mir der ganze Trend gleich wieder um ein großes Eck sympathischer, auch wenn es nach wie vor hauptsächlich nach Profit für die Radhersteller riecht. Aber auch hier hege ich eher einen pragmatischen Ansatz und vergönne jedem Hersteller den Erfolg beim Beackern des Marktes, der sich die entsprechenden Gedanken um Bedürfnisse und Wünsche der Nutzer*innen und Käufer*innen macht.

Wohin geht die Reise?

Ich habe – angesichts in mir geweckter Sehnsüchte – versucht, meinen Crosser so zu adaptieren, dass daraus ein Allzweck-Rad wird, mit dem ich jegliche Unternehmung – vom Alpencross bis zum vollwertigen Rennrad-Ersatz – in Angriff nehmen kann. Lange habe ich getüftelt, welche Laufräder die geeigneten wären, welche Übersetzung Sinn macht, habe Stunden auf die richtige Reifenwahl verbracht, Teile gekauft, Teile getauscht, Teile wieder verkauft und bin an proprietären Laufrad-Standards verzweifelt (Danke, Specialized, dass ihr genau bei meinem Modell ein Jahr lang einen neuartigen Standard ausprobiert habt). Wie schon erkennbar sein dürfte, war das Projekt „Rad-Umbau“ nicht sonderlich erfolgsträchtig. Nicht, dass ich jetzt mit dem Rad nicht fahren kann oder einen enormen Unterschied spüren würde, wen ich das Rad nicht „zweckmäßig“ einsetze, aber ein paar Dinge hätte ich gerne anders gehabt – in erster Linie etwas mehr „Drang nach vorne“ – und das sagt einer, der dem Drang nach vorne normalerweise nicht die oberste Priorität einräumt. Aber die komfortable Sitzposition des Crossers und der steile Lenkwinkel machen ihn im Vergleich zum Rennrad etwas unruhiger und „kürzer“, dementsprechend ist auch die Sitzposition etwas gedrungener.

Das alles kann ich aber erst behaupten und postulieren, seitdem ich mit dem Rad in Osttirol und Kärnten ein paar Runden gefahren bin, die den Einsatz eines Gravel-Rades – so wie ich ihn interpretiere – rechtfertigen. Es waren flotte Runden auf schlechtem Asphalt, auf grob geschotterten Waldwegen, auf weichen Forststraßen, durch trockene Bachbetten und Furten. Das Rennrad wäre hier vermutlich drübergekommen, unbedingt zumuten hätte ich es ihm nicht wollen. Das Mountainbike (der Argumentation von oben folgend: ein leichtes Hardtail) wäre gleichermaßen am falschen Ort gewesen, hier wären die Anforderungen wieder zu gering gewesen, wie mit „Kanonen auf Spatzen zu schießen“… Bei Runden über 100 Kilometer und mehr wäre das MTB auch nicht die richtige Wahl, wenn beispielsweise nur Abschnitte der Route über unbefestigte Wege führen. Und so hatte ich letzte Woche meinen ganz persönlichen Aha-Moment, meine Gravel-Epiphanie, wo ich zum ersten Mal einen (sinnvollen!) möglichen Einsatzzweck eines Gravel-Rades und gleichzeitig die Unzulänglichkeit meiner Umbauversuche erkannt habe.

Und jetzt?

Selbstverständlich soll nach wie vor jedem und jeder unbenommen sein, mit welchem Untersatz man welche Herausforderungen bestreiten will. Mein Geschwurbel soll weder zum Kauf eines Gravel-Bikes (und damit einer potentiell beziehungsgefährdenden „N+1“-Diskussion) anregen noch irgendjemandem vorschreiben, was gut und richtig wäre. Mir persönlich war aber wichtig, für mich selbst einmal Ordnung in meine Gedanken zu bringen, ein paar Dinge zu sortieren und in Relation zu setzen. Vielleicht wird mich ein Hersteller morgen schon mit einem neuen „Standard“ überraschen, der alle meine Gedanken wieder über den Haufen wirft, vielleicht war es aber auch der Startpunkt einer neuen Reise, wer weiß… J

PS: Ich habe leider keinen fotografischen Beweis meiner jugendlichen Ausflüge gefunden, daher darf ich mit einem feuchten Traum aus meiner Jugend schließen (und die tolle Juli Furtado ist auch auf dem Foto zu sehen):

Juli Furtado in den 90ern auf einem GT Zaskar! Quelle

Juli Furtado in den 90ern auf einem GT Zaskar! Quelle