Christoph Strasser - "Der Weg ist weiter als das Ziel"

Man kann schon einmal die Jahreszahlen durcheinanderbringen… Verletzung in diesem Jahr, Triumphfahrt in jenem, das Duell mit Reto Schoch im einen, Lungenprobleme im anderen, Streckenrekord hier, „DNF“ dort. Wir befinden uns mitten drinnen in der Biographie von Christoph Strasser mit dem Titel „Der Weg ist weiter als das Ziel“. Dass Christophs Wege weit sind, ist hinlänglich bekannt, gut 4.800 Kilometer durchmisst das Race Across Amerika den nordamerikanischen Kontinent von West nach Ost. Und schnell wird klar, dass das Leben und Wirken von Strasser eng und unmittelbar mit dem „RAAM“ verknüpft ist. Das Race Across America ist aber nur ein Schauplatz, der im Buch beleuchtet wird. Ebenso wichtig und für den interessierten Leser und die Leserin umso spannender sind die Blicke hinter die Kulissen des Ultraradfahrers Strasser. Doch der Reihe nach…

Interessant und aufschlussreich beginnt die Geschichte - eine Biographie eben - bei Elternhaus, Kindheit und Jugend. Strasser erzählt launig von seinen ersten Begegnungen mit dem Rad, den mit dem Rad zurückgelegten Wegen zwischen Großeltern und Eltern, dem Aufwachsen in der steirischen Ortschaft Kraubath und dem Erwachsenwerden. Was bei diesen Episoden mitschwingt sind wichtige Zwischentöne, die helfen, den Radsportler und sein heutiges Schaffen besser zu verstehen. Auf der Suche nach grundsätzlichen Charakterzügen, Wertehaltungen und Weltanschauungen wird man nunmal am ehesten in der Jugend und dem frühen Erwachsensein fündig. Und hier zeigt sich bereits, wo die Reise für Christoph Strasser hingeht: geerdet, bescheiden, fleissig und dabei zielstrebig stellt er sich dar - und wer ihn schon einmal persönlich kennenlernen durfte, erkennt, dass er auch heute noch so ist.

Anfänge

Großartig sind die Episoden, wo Strasser mit dem alten Mountainbike seiner Jugend beim ersten 24-Stunden-Rennen an der Startlinie steht - wenig Augenmerk auf Material, Kleidung oder Aussehen. Und genau das ist es, was manche von uns heutzutage vielleicht vermissen. Die Unschuld, sich einfach aufs Rad zu setzen und loszufahren, sich nicht um Strava, Wattwerte oder Sockenfarbe kümmern zu müssen, sondern die Essenz des Sports zu spüren. Bei diesen 24h-Rennen im steirischen Fohnsdorf trifft Strasser auch zum ersten Mal auf Wolfgang Fasching - 2002 hat Fasching gerade zum dritten Mal das Race Across America für sich entschieden, ist damit also der zu diesem Zeitpunkt größte Ultraradsportler seiner Zeit.

Die Unschuld bleibt vorerst erhalten, auch wenn Strasser bei seinen Teilnahmen immer erfolgreicher wird. 24h-Kraftwerkstrophy in Theiss, Race Across the Alps, 24h von Kelheim - die Wege dorthin werden mit dem Camper in Angriff genommen, die Crews sind aus Freunden und frühen Wegbegleitern zusammengestellt und die Ergebnisse werden besser und besser. Aus losen Bekanntschaften werden Teamkollegen bzw. Crewmitglieder, die teilweise bis heute mit an Bord sind, auf sportlicher Ebene macht sich Strasser nach und nach einen Namen und steht plötzlich Seite an Seite mit vermeintlich unerreichbaren Idolen wie Jure Robic oder Marko Baloh am Podest.

Vorbilder

Jure Robic kommt große Bedeutung im Leben Strassers zu. 2007 treffen sie beim Race Around Slovenia aufeinander, fahren gegeneinander aber irgendwie auch miteinander. Grundsätzlich zieht sich durch das gesamte Buch und auch das Leben von Strasser, dass mit den meisten Fahrern und vermeintlichen Konkurrenten ein sehr gutes bis freundschaftliches Verhältnis gepflegt wird. Zu klein der Sport, zu gering die Teilnehmerzahlen, zu ähnlich die gemeinsamen Interessen und Zielvorstellungen. Freilich bekommt niemand etwas geschenkt und auf dem Rad zählen Leistungen und Ergebnisse, dennoch wiegt die gemeinsame Ausübung des Sports schwerer als kleine persönliche Animositäten. Abgesehen davon ist es auch etwas anderes, ob man sich in einem großen geschlossenen Fahrerfeld bewegt, oder aber auf sich allein gestellt bzw. mit seiner Crew mehrere hundert Kilometer lang alleine unterwegs ist.

Robic dominierte über Jahre den Ultraradsport, gewann die meisten Rennen mehrfach und souverän und war Strassers Vorbild. „War“, weil Robic leider bei einem Trainingsunfall im Jahr 2010 verstarb. Die Aufeinandertreffen von Strasser und Robic sind zahlreich: zuerst der unbekannte Rookie mit dem souveränen Meister, später der beharrliche Herausforderer, dann der tatsächliche Konkurrent auf Augenhöhe, plötzlich jener Fahrer, der die Titel wegschnappt. Die ultimativen Duelle waren aufgrund des frühzeitigen Tods von Robic nicht mehr möglich, in Erinnerung bleibt Strasser der Ausspruch von Robic: „Du wirst einmal das RAAM gewinnen“. Strasser versuchte - bewusst und unbewusst - die Lücke zu füllen, die Robic hinterlassen hatte - mit seinen Leistungen aber auch als Sportsmann und Aushängeschild einer ganzen Sportart.

Race Across America

2009 startet die Beziehung Strassers mit dem Race Across America. Der Erzählstrang des Buchs orientiert sich am Verlauf eines RAAMs und dessen Abschnitten und Time Stations. Der Start an der Westküste im kalifornischen Oceanside, die ersten Kilometer nach Borrego Springs (inkl. des berühmt-berüchtigten „Glass Elevators“, die langen Gerade durch menschenleere Landstriche, die große Hitze und die kalten Nächte, die Rocky Mountains, Kansas und wiederum lange Geraden, die Appalachen und schließlich die letzten Kilometer bis zum Ziel in Annapolis. Strassers Erzählungen sind detailliert und sparen nicht mit selbstkritischen, spannenden, aufschlussreichen und lustigen Anekdoten aus dem Sattel und dem Betreuerauto.

Dabei springen die Erzählungen recht sprunghaft zwischen den unterschiedlichen Teilnahmen (2009, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2017 und 2018) hin und her - so schnell, dass man als Leser teilweise den Überblick verliert, wo und an welchem Zeitpunkt der Geschichte man sich gerade befindet. Das tut dem Lesespaß allerdings überhaupt keinen Abbruch, zu intensiv sind Strassers Erzählungen, man fühlt sich wie ein Betreuer oder Zuschauer, der direkt im Rennen mit dabei ist.

So lebt man mit Strasser mit, wenn er von Duellen mit anderen Fahrern erzählt, seinen Zustand am Rad sehr bildlich beschreibt oder aber über seine Gefühlswelten vor, während und nach dem Rennen berichtet. Zweikämpfe haben in der Historie der Strasser´schen RAAMs zahlreich stattgefunden. Mit Freunden - Severin Zotter, David Misch - Kollegen wie Gerhard Gulewitz und Marko Baloh oder aber mit ungeliebten Konkurrenten wie dem Schweizer Reto Schoch. Bei letzterem ist sogar dem an sich sehr besonnenen und ruhigen Strasser die Wut anzumerken, wenn es um die einschneidenden Erlebnisse des RAAM 2012 geht. Aber Strasser wäre nicht Strasser, wenn er nicht auch in diesen Erlebnissen etwas Positives sehen würde - das Duell mit Schoch und die Lehren daraus haben ihn zu einem besseren Fahrer gemacht, die Motivation zurückzukommen war ungleich größer.

Der Zielstrich des RAAM!

Die Zustände des Radlers Christoph Strasser, die dieser während den acht Tagen des RAAM durchlebt sind mit die unterhaltsamsten Geschichten im Buch, auch wenn die Dramatik der Situation und der körperliche und geistige Zustand eigentlich keinen humorigen Beigeschmack mit sich bringen. Da werden schon einmal Straßenmarkierungen zu nicht aufgerolltem Klopapier, eigene Crew-Mitglieder werden nicht mehr als solche erkannt, nach einem Lenkerbandwechsel wird auch das Rad nicht mehr als das eigene identifiziert. Einmal fragt Strasser seine Crew, warum diese ihn immer und immer wieder den gleichen Anstieg hinauf schickt, obwohl dieser natürlich jedesmal ein anderer ist, Bauarbeiter werden mit Fangruppen verwechselt und beim Anblick des RAAM-Fotografen steuert Strasser gleich direkt in einen Acker hinein (und hofft dabei, dass das wenige Meter hinter ihm fahrende Betreuerauto diesen Fauxpas nicht bemerkt hat).

Während geistige Zustände in erster Linie auf den Schlafmangel zurückzuführen sind, ist natürlich auch der Körper des Radsportlers während einem RAAM extremen Herausforderungen ausgesetzt. Ein wunder Hintern und Probleme mit den Handgelenken sind dabei noch die geringeren Probleme. Lungenerkrankungen bis hin zum Ödem - weswegen auch Strasser eine seiner RAAM-Teilnahmen abbrechen musste, Probleme mit dem Wasserhaushalt, die zu gefährlichen Einlagerungen im Körper führen können und natürlich mögliche Verletzungen als Folgewirkung von Stürzen oder Unfällen sind nicht immer vermeidbar. Der beim RAAM verpflichtende Arzt in jedem Team kann bestimmte Auswirkungen abfedern oder mildern, Vorbeugung und entsprechend richtige Reaktionen bei auftretenden Symptomen sind jedoch der Schlüssel, dass man diese Sportart auch über einen längeren Zeitraum ausüben kann und nicht nachhaltige Schäden davonträgt. Immerhin dauert es mehr als zwei Tage, bis nach einem RAAM der Gleichgewichtssinn wieder zu 100% funktioniert, Gefühl in Zehen und Fußsohlen kommt ebenfalls erst nach und nach zurück. Sechs Wochen dauert es insgesamt, bis der Körper wieder auf dem Leistungsniveau von vor dem Rennen angelangt ist.

Der Faktor Team

Ausführlich - und das absolut zurecht im Sinne der Bedeutung - wird die Notwendigkeit des richtigen Teams skizziert. Ein Team ist jedenfalls keine lose Ansammlung von Adjutanten sondern integraler Bestandteil des Unterfangens und laut Strasser (neben Körper und Geist) zu 34% verantwortlich für ein erfolgreiches Rennen. Die Menschen an Strassers Seite sind dort schon lange am Werken, haben ebenfalls bereits große Erfahrung bei Langstreckenrennen und wickeln eine derartige Herausforderung hochprofessionell ab. Die Aspekte, die die Crew dabei zu behandeln hat, sind mannigfaltig und für den gemeinen Beobachter von außen oft gar nicht sofort erkennbar. Neben eher offensichtlichen Aufgaben wie Nahrungsversorgung oder medizinischem Beistand kommt natürlich der „Unterhaltung“ und Motivation des Fahrers enorme Bedeutung zu. Dass dieser Fahrer diese Hilfestellungen manchmal nicht oder nur sehr unwillig annimmt steht auf einem anderen Blatt Papier und ist eine große Herausforderung für Crewmitglieder - hier passiert aber zumindest im Team Strasser nichts, was sich nicht durch ein Bier nach dem Rennen reparieren doer geradebiegen ließe.

Soziales

Natürlich nicht Teil des Teams sind die anderen Fahrer, die zumeist als Gegner, sehr oft aber auch als Freunde und gute Kollegen Teil der Geschichte sind. Hervorgehoben und im Buch auch entsprechend gewürdigt werden David Misch und Severin Zotter. Misch beendete das RAAM selbst als Rookie of the Year, bestritt mit Strasser gemeinsam einige Rennen im Team und - in seiner Funktion als Autor - interviewte er Strasser für sein zuletzt erschienenes Werk „Intensität“. Zotter gewann das RAAM als Strasser nicht zur Stelle war und gesundheitsbedingt das Rennen aufgeben musste. In Zotter wuchs ein ernstzunehmender Konkurrent für Strasser heran, dieser widmete sich jedoch nicht zu 100% dem Ultraradsport sondern behielt seinen Job als Sozialarbeiter und plante die Gründung einer Familie. Diese Episode ist ein spannender Einblick in das Leben eines Ultraradsportlers in dem Sinne, dass es jedenfalls schwer ist, auf mehreren Kirtagen gleichzeitig zu tanzen und die Entscheidung FÜR eine Sache mitunter auch eine Entscheidung GEGEN eine andere darstellt.

Race Around Austria

Das Race Around Austria ist nicht nur mir ein persönliches Anliegen und eine Freude sondern auch Christoph Strasser. Davon zeugen zahlreiche Teilnahmen und Siege und eine entsprechende Wertschätzung, die in einem eigenen Kapitel des Buchs zu lesen ist. Das von Michael Nussbaumer ins Leben gerufene Event in der heutigen Form gilt als eines der schwersten Ultra-Radrennen in Europa und der ganzen Welt. Zur Geschichte des RAA habe ich an anderer Stelle schon mehr geschrieben - Strasser war einer der beiden Protagonisten, die 2008 die ursprünglich von Manfred Guthardt erprobte Österreich-Umrundung auf deren Wiederholbarkeit testeten und das Race Around Austria in der heutigen Form ermöglichten.

Die Atmosphäre des Race Around Austria wird im Vergleich zum RAAM als unglaublich beschrieben - während im Ziel des RAAM ein Official und einige Team- oder Familienmitglieder warten, werden in Sankt Georgen im Attergau ja sämtliche Fahrer durch das gleichzeitig stattfindende Marktfest gelotst - ein Ankommen, das keiner der Teilnehmer so schnell wieder vergisst. Auch nicht vergessen wird Strasser wohl die Teilnahme als Vierer-Team im Jahr 2013 - die Geschichten dazu sind nicht ganz jugendfrei und sollten daher am besten im Buch selbst nachgelesen werden.

Sportliche Ausflüge

Es ist natürlich maßlose Untertreibung, an dieser Stelle von „Ausflügen“ zu sprechen, vielmehr ist jedes Unterfangen von Strasser verbunden mit körperlichen und geistigen Höchstleistungen, die keinerlei Ähnlichkeit mit entspannten Ausflügen aufweisen.

In Erinnerung bleibt jedenfalls der 24h-Weltrekord auf der Bahn im Schweizer Grenchen. Wenn Strasser selbst das Kapitel mit „Gschissn und Richtig Gschissn“ bezeichnet, dann soll das schon was heißen… Zuerst noch wegen einer Erkältung verschoben, spulte Strasser in 24 Stunden 941,8 Kilometer ab - gleichbedeutend mit 3.767 Runden auf der 250 Meter langen Radbahn. Für Strasser retrospektiv das „Irrste“, was er jemals gemacht hat. Die Rekord-Urkunde bekam Strasser vom vorherigen Rekordhalter Marko Baloh überreicht, mit ehrlicher Freude - ein unfehlbarer Indikator für das gute Verhältnis, das Strasser zu seinen Kollegen pflegte und pflegt.

Die Stadt Wien bekommt an dieser Stelle übrigens - zu Recht! - ihr Fett weg. Bürokratische Prügel, die dem Team Strasser im Vorfeld in den Weg gelegt wurden, verhinderten, dass der Weltrekordversuch im Wiener Ferry-Dusika-Stadion stattfindet.

Humorig - aber auch hier mit eigentlich ernstem Hintergrund - liest sich die Episode rund um den 24h-Weltrekord am Berliner Tempelhof. Die Strecke war nur sporadisch abgesperrt, das Wetter war nicht gerade einladend, der Wind bösartig. Trotzdem zog Strasser die Nummer durch, der Weltrekord betrug danach 896,2 Kilometer. Die magische Marke von 900 Kilometer hat Strasser in der Zwischenzeit übrigens pulverisiert - die 24h-Weltmeisterschaften in Borrego Springs fanden gerade erst im Oktober 2018 und damit nach Fertigstellung des Buchs statt.

Charakteristika eines “Weiradlfoaras”

Was ist notwendig, um Ultraradfahrer auf derart hohem Niveau zu sein? Das Buch kann diese Frage natürlich nicht erschöpfend beantworten - abgesehen davon, dass viele Aspekte absolut individuell sind und daher nicht von einer Person auf die andere gemünzt werden können. Strasser legt eine absolute und starke intrinsische Motivation an den Tag - dies spiegelt sich in allen seinen Aussagen, Ansichten und Taten wider. Stetige Verbesserung der eigenen Person und Leistungen steht absolut im Vordergrund, wobei - aus meiner Sicht absolut essentiell und mit ein Alleinstellungsmerkmal von Strasser - auch eine große Portion Bescheidenheit und Demut erhalten bleibt.

Strasser hat sich in den letzten Jahren an die Spitze des Ultra-Radsports hinaufgearbeitet. Konkurrenten oder Herausforderer sind Mangelware. Was auf den ersten Blick als Glücksfall erscheint, offenbart auf den zweiten Blick großen Druck, Motivationslöcher und viel notwendiges Durchhaltevermögen. Keiner spricht mehr von Durchkommen oder vom olympischen „Dabeisein ist alles“, sondern nur noch von Pflichtsiegen und verbesserten Streckenrekorden. Die Mutter sagt etwa „Super Junge, dann kann endlich ein anderer gewinnen“, als bekannt wird, dass Strasser 2016 nicht beim RAAM antreten kann. Ständig Favorit zu sein ist schön, aber kein Garant dafür, dass man diese Rolle auch weiterhin einnimmt. Positiv formuliert heißt das bei Strasser, immer weiter hart an sich zu arbeiten, um den Moment hinauszögern zu können, in dem ein Besserer kommt.

Kritiker werfen Strasser gar vor, die Gegner zu verhöhnen, in dem er Stunden und Tage Abstand zwischen sich und seinen Verfolgern herstellt. In seinen Augen ist allerdings genau das Gegenteil der Fall: Für Strasser zeugt es von Respekt gegenüber den anderen Teilnehmer*innen, dass er gut vorbereitet und top motiviert an die Startlinie kommt. Im Jahr 2018 war das beim Race Across America gut ersichtlich: Die Konkurrenz war „überschaubar“, der Druck des fünften Siegs groß, die Motivation aber schwierig aufrecht zu erhalten. Funktioniert hat es dann trotzdem, aber nicht „eh“ sondern „obwohl“!

Und außer Radfahren? Was sonst noch?

„Das Rad und ich - das ist etwas Längerfristiges“ meint Strasser und der Romantiker in mir frohlockt ob der einfachen aber so authentischen Botschaft. Völlig unromantisch allerdings (oder vielleicht gerade auch wieder romantisch!) ist allerdings, dass es im Ultraradsport im Wesentlichen keine Preisgelder gibt. Das erscheint auf den ersten Blick fatal und mag es aus wirtschaftlicher Sicht auch sein, andererseits erhält dieser Umstand eine gewisse Unschuld der Szene und der Rennen und - sehr wesentlich angesichts der erbrachten Leistungen - verleitet es weniger zur Verwendung unlauterer Mittel, um einen Sieg herbeizuführen. Tatsächlich wird dies durch bis dato fehlende positive Dopingergebnisse weitgehend untermauert.

Wie finanziert man sein Leben als Ultra-Radrennfahrer, wenn die sportlichen Erfolge keine entsprechende Entlohnung versprechen? Die Antwort liegt in Büchern und Vorträgen, ersteres zu erklären ist ob dieses Artikels glaube ich obsolet, zweiteres hat sich Strasser sukzessive erarbeitet. Vorab steht man vor einem Dilemma: Trainieren, um die sportlichen Erfolge zu garantieren oder mit Vorträgen und anderen Aktivitäten Geld verdienen (dafür aber Trainingszeit zu opfern)? Strasser hat einen erfolgreichen Mittelweg gefunden - offensichtlich!

Seine Vorträge handeln von seinen Abenteuern und dienen dazu, Motivation und Herangehensweise von Strasser bei seinen Projekten zu erläutern. Es sind keine klassischen Motivationsseminare - obwohl manch Aussage von Strasser durchaus Potential für ein Motivationsposter hätte („Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu werden“, „Knappe Niederlagen gehören im Sport zum Motivierendsten, was es gibt“, „Wenn ich erfolgreich sein will, muss ich auch echte Leistung bringen“). Im Kontext seiner Erfahrungsberichte und gepaart mit der natürlichen Authentizität nimmt man ihm gerne ab, worüber er spricht. Ganz abgesehen davon ist ja wenig Hokuspokus an der Sache, meistens geht es doch nur darum, einen Spiegel vorgehalten zu bekommen und von anderen zu lernen. „Wollen“ wird man schon müssen, aber wer nicht „will“, wird wohl weder dieses Buch lesen noch in einen Vortrag eines Ultraradsportlers gehen (obwohl ich es ihm oder ihr wünsche).

Gewinnspiel

Es wird ein signiertes Exemplar des Buchs “Der Weg ist weiter als das Ziel” von Christoph Strasser unter allen Teilnehmenden verlost. Das Buch wurde von Christoph Strasser, Ultracyclingshop.com und Egoth Verlag zur Verfügung gestellt.

Alle Teilnehmenden werden auch für den 169k-Newsletter eingetragen. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, keine Barablöse. Die Teilnahme ist bis inkl. 20.11.2018 möglich, die Bekanntgabe des Gewinners bzw. der Gewinnerin erfolgt auf der Facebook-Seite von 169k und per Mail.

"Intensität" von David Misch

Ich würde ja gerne schreiben, dass ich mich noch genau daran erinnern kann, als es an diesem oder jenen Tag, genau um diese Uhrzeit Klick gemacht hat. Aber ich kann Zeitpunkt und Auslöser nicht mehr genau festmachen, als sich bei mir irgendein mysteriöser Schalter umgelegt hat. Ab diesem Moment waren manche Dinge irgendwie anders: Erzählungen über tagelange Radtouren lösten bei mir plötzlich kein Kopfschütteln mehr aus, Geschichten über Schlafentzug schockierten mich weniger als zuvor, Berichte von “Qualen" bei der Bewältigung einer hunderte Kilometer langen Strecke machten plötzlich geradezu Lust, selbst sofort in den Sattel zu steigen.

Ultracycling, aber auch jede andere Sportart, die eine ähnliche Hingabe und Zuwendung abverlangt, ist ein Feld, über das man hervorragend philosophieren kann. Wie sonst soll man manche Ausprägungen “rational” erklären? Zwangsläufig sieht man sich mit Fragen konfrontiert wie “Ist das noch normal?”, “Ist das nicht gesundheitsschädlich?” oder “Wo liegt der Sinn dieser Aktionen?”. Diese grundlegenden Fragen zu beantworten und die vielen Zwischentöne und Nuancen zu beleuchten ist eine große Herausforderung, zumal Motive und Herangehensweisen höchst unterschiedlich sind. Als gemeinsamer Nenner lässt sich jedoch der Begriff “Intensität” ermitteln, geht es doch immer um ein bewusstes Erleben, Steigern oder Erfahren.

David Misch - selbst Ultra-Radsportler und Autor des schönen Buchs “Randoneé” - hat sich unter ebenjenem Titel “Intensität” daran gemacht, den Themenkomplex fundierter zu betrachten. Und er tut dies nicht alleine, sondern mit Hilfe von zahlreichen Protagonisten ebendieser “intensiven” Erlebniswelten - Radfahrern, Läufern, Tauchern, Bergsteigern und Paragleitern. In siebzehn Interviews versucht Misch, einen Einblick in die Gedankenwelt dieser Personen zu erlangen - immer mit dem Ziel, die Motivation, Herangehensweise und die damit verbundenen Hoffnungen und Ängste zu erfahren, die in der Verwirklichung von immer extremeren Projekten liegen. Das resultiert in teilweise ernüchternden, manchmal erwartbaren aber oft auch überraschenden Geschichten, denn mit Hobby-Psychologie alleine kommt man nicht weiter, wenn man auf der Suche nach Erklärungen für diese Höchstleistungen ist.

AZ5A8592.jpg

Die Interviews

Es macht natürlich keinen Sinn, hier zu versuchen, das Buch klassisch zusammenzufassen, zu unterschiedlich sind dafür die einzelnen Gespräche und Erfahrungen. Eine gemeinsame Klammer um alle Interviews zu spannen ist ebenso nicht möglich, einerseits hat jede Person in dem Buch ihre Alleinstellungsmerkmale, andererseits führt ja schon der Autor selbst am Anfang des Buchs aus, dass es nicht möglich ist, alle Projekte der Protagonisten in einen gemeinsamen Topf zu werfen.

Für eine Rezension eine schwierige Aufgabe… Bevor ich daher auf jedes der gefühlt 2.000 Fähnchen eingehe, das ich bei der Lesung des Buches eingeklebt habe - “Das könnte für die Rezension interessant sein!”, “Das hier auch”, “Naja, das hier eigentlich auch noch” - versuche ich ein paar der Aspekte aus den einzelnen Interviews hervorzuheben, die mich persönlich entweder berührt, verwundert oder überrascht haben und hoffentlich Lust aufs Lesen machen - ohne roten Faden, Wertung oder Reihenfolge…

Momentaufnahmen

Quälerei

Rainer Predl - den ich übrigens 2017 beim Race Around Austria vor der Linse hatte - ist Pragmatiker. Bei ihm scheint der Lustgewinn nicht primärer Antrieb zu sein bzw. geht es ihm neben der Leistung jedenfalls nicht um landschaftliche Schönheit oder andere Genüsse. Er scheint getrieben davon, Leistung erbringen zu müssen und schreckt dabei auch vor Selbstzerstörung nicht zurück, obwohl sein Körper schon sämtliche Alarmsignale aktiviert hat. Leistung und Tempo sind für ihn die einzigen Messgrößen, nur Finishen alleine ist für ihn persönlich noch kein Ziel. Doch wer hier eine emotionslose Maschine vermutet liegt falsch, ist doch ein Mindestmaß an Reflexion essentiell, wenn man sich in solchen Extremen bewegt. Bewundernswert finde ich daher die Anekdote, in der Predl ein Rennen aufgab, als er sich bewusst wurde, dass sich viele andere Läufer über ihre vernünftigen Grenzen hinaus verausgaben und er “nicht mehr Teil dieser Horrorshow sein wollte”.

Social Media-Druck

Ein sehr spannender Aspekt wird von Florian Grasel - unter dem Pseudonym “Trailbeard” einer der erfolgreichsten Trailrunner - eingebracht, und zwar der Druck, der durch soziale Medien entsteht. Im Extremsport bedeutet das, sich tagtäglich mit neuen Rekorden, Projekten und Versuchen konfrontiert zu sehen, gut produziert, hervorragend dokumentiert und vermeintlich auch recht einfach nachzumachen und damit auf eine Art und Weise die Leistungen wieder relativierend. Die eigene Social Media-Präsenz ist dabei zugleich Fluch und Segen, ist es doch ohne entsprechenden Internetauftritt heutzutage schwierig, Leistungen zu vermarkten und Sponsoren zu finden. Der permanente Druck des Produzierens neuer Inhalte - die im Idealfall auch noch spektakulär sein sollen - ist allerdings enorm. Da kann das persönliche Erleben schon einmal fast durch den Rost fallen.

Suchtpotential

RAAM-Sieger Severin Zotter arbeitet als Sozialarbeiter in Graz und hat in dieser Funktion auch mit zahlreichen Suchterkrankten zu tun. Er widerlegt in seinem Interview auf spannende und eloquente Art und Weise die Hypothese, dass viele (Extrem-)Sportler aus einem Suchtverhalten heraus handeln, immer neue Rekorde und Extreme suchen, vergleichbar mit dem “nächsten Schuss” - und es finden sich in “Intensität” auch andere Sportler, die in das gleiche Horn stoßen. Die meisten der Protagonisten sind überlegte, rational handelnde, berechnende und sämtliche Eventualitäten abwägende Individuen. Von unüberlegten, sinnlos riskanten oder irrationalen Handlungen sind alle weit entfernt - wesentlich ist der im Vorfeld grob abgesteckte Rahmen, in denen sich deren Aktivitäten bewegen. Und wenn schon Sucht, dann erwähnt Zotter Sport als Suchtprävention - hier wird schlimmstenfalls eine gefährliche Sucht gegen eine weitaus harmlosere getauscht.

Übermenschliche Leistungen

Immer wieder kommt auch das Thema Doping zur Sprache - überall dort verständlich, wo Leistungen über die Vorstellungskraft eines externen Betrachters hinausgehen. Christoph Strasser - gerade frisch gebackener Staatsmeister im Ultracycling beim Race Around Austria - berichtet von seinen Sorgen, dass die Stimmung ihm gegenüber kippen könnte, angesichts der Leistungen, die er auf beständig hohem Niveau erbringt. und er sieht dabei ein systemisches Versagen - sobald mehr Geld im Spiel ist, “bleibt kein Platz für Idealismus, für den vielzitierten olympischen Gedanken”. Dass das Race Across America nach wie vor ohne Preisgelder auskomme, sei in diesem Sinne als Vorteil zu werten, um die Unschuld und auch Unbekümmertheit der Szene zu bewahren. Denn Fakt ist auch - und das auch abseits des klassischen Dopings: wer bei einem mehrere tausend Kilometer langen Rennen betrügen wollte, der wird das schaffen - trotz Referees und Regularien.

Christoph Strasser bei der Race Around Austria Challenge 2018

Immer weiter

Warum läuft oder fährt man immer weiter und weiter - wie kommt es zustande, dass man sich an die Startlinie eines (unvorstellbaren) 20-fach Ironman stellt? Xandi Meixner beschriebt, dass sie vom Konzept des “immer schneller” in einer bestimmten Disziplin zum “immer weiter” gewechselt hat - eine vermeintlich grundlegende Entscheidung zwischen zwei Entwürfen von Sport, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Für Meixner nimmt die Entscheidung für das “immer weiter” auch Druck von ihr, falls in einem Jahr einmal nicht die entsprechenden Leistungssteigerungen auftreten.

Ambivalenz

Ambivalent ist das Bild, das von Michael Strasser entsteht, wenn man seine Interviewpassagen studiert. Es ist schwierig, sich zwischen Top-Leistungssportler, Narziss, Sozialprojekt und Öffentlichkeitsarbeit ein stimmiges Bild zu machen. Er wirkt getrieben von der absoluten und permanenten Leistungsoptimierung wobei gleichzeitig der Eindruck entsteht, dass an anderen Stellen Dinge zu kurz kommen. Auch wenn ein gewisser Pragmatismus bei monumentalen Projekten wie dem aktuell laufenden “Ice2Ice” natürlich notwendig ist, um so etwas erfolgreich abzuwickeln.

Das Buch

Die Zielgruppe für dieses Buch ist breit gefächert. Sport-Interessierte, Hobbyathleten mit Ambitionen, Partner und Angehörige und alle Menschen, die verstehen wollen, was in Extremsportlern vor sich geht. Das Buch beschönigt nichts - nicht dass dies notwendig wäre, leugnet nichts, wertet aber auch nicht. Die Protagonisten sprechen aus ihren Innersten, allzu viele Kommentare sind dazu nicht notwendig. Es bleibt genügend Spielraum für den Leser und die Leserin, die Aussagen für sich selbst zu deuten und damit auch die Möglichkeit, sich selbst wiederzufinden.

Autor und Buch verzichten auf jegliche Effekthascherei. Die enthaltenen Bilder der Protagonisten verdeutlichen lediglich, in welchem Umfeld sich diese bewegen und untermauern damit deren Aussagen. Die Interviews selbst sind so verfasst, als säße man mit am Tisch - auch hier bedürfen die Worte der Interviewpartner keiner zusätzlichen Stilmittel oder Dramatisierungen, die “Intensität” des Gesagten reicht hier absolut aus, um das Buch nicht weglegen zu wollen.

Übrigens hat im Egoth Verlag vor kurzem auch Christoph Strasser ein Buch veröffentlicht - eine Biographie mit dem Titel “Der Wer ist weiter als das Ziel”. Eine Rezension und das dazugehörige Gewinnspiel gibt es in Kürze hier auf 169k.net

Neben dem Rezensionsexemplar wurde vom Egoth Verlag noch ein Exemplar zur Verlosung zur Verfügung gestellt. Alle vollständig ausgefüllten und abgeschickten Formulare nehmen automatisch an der Verlosung teil. Es besteht kein Rechtsanspruch und es ist keine Barablöse möglich. Mit Absenden des untenstehenden Formulars erfolgt außerdem eine Eintragung des Absenders in den Verteiler des 169k-Newsletter. Die Bekanntgabe des Gewinners oder der Gewinnerin erfolgt auf der Facebook-Seite von 169k.net, die Teilnahmefrist endet am 30.09.2018.