Festive 500-Tagebuch

24. Dezember 2019

Weihnachten! Das Fest der Liebe, des Friedens und der Familie ist gleichzeitig der Start von "Festive 500". Und während Friede (ein Gefühl, das sich bei mir im Sattel einstellt) und Liebe (eindeutige Assoziation mit dem Radeln) noch mit dem Radfahren in Verbindung gebracht werden können, steht die Familie in diametralem Gegensatz zu den Opfern, die man für die Festive 500 erbringen muss. Es gilt, 500 Kilometer zwischen Weihnachten und Silvester abzuspulen - an jenen acht Tagen also, an denen normalerweise Herumknotzen, Fernsehen und Kekse Essen im Vordergrund stehen.

500 Kilometer an acht Tagen ergibt 62,5 Kilometer pro Tag. Macht man einen Tag Pause, sind es bereits über 70 Kilometer pro Tag, bei zwei Aussetzern schon gut 80. "Veranstaltet" wird das ganze von Rapha und Strava, wobei das zwischendurch auch einmal hin- und hergewechselt hat.

Warum man sich das antun sollte? Naja, es gibt einen virtuellen Pokal auf Strava und wenn man sich entsprechend bei Rapha meldet, einen physischen Stoff-Badge, der dann - so wie alle derartigen Trophäen, die ich in meiner Laufbahn errungen habe - in irgendeiner Lade verstaubt. Wichtiger sind in meinen Augen allerdings andere "Belohnungen": der ultimative Sieg gegen den inneren Schweinehund - rauszugehen, während andere vor dem Ofen sitzen bleiben, Kalorien zu verbrennen, während andere vielleicht noch einmal auf den Keksteller greifen, sich ins Radgewand zu schmeißen, während andere den Tag im Pyjama verbringen.

Tag 1 bringt mir gut 72 Kilometer bei 750 Höhenmetern. Von Lienz aus fahre ich nach Osten, der vorhergesagte Föhnsturm hat mich meine Routenplanung adaptieren lassen, tatsächlich bleibt der Wind allerdings aus - also weder Qualen durch Gegenwind noch großartige Begünstigung durch Rückenwind. Auf der ansonsten wild befahrenen B100 durch das Drautal scheint auch eine Art Weihnachtsfrieden eingekehrt sein - während alle ihre letzten Einkäufe tätigen oder schon auf dem Weg zu den Freunden und Verwandten sind, kann ich in Ruhe auf der Bundesstraße dahinrollen. Für Abwechslung sorgen kurze Abstecher weg von der Bundesstraße und hinauf auf die benachbarten Hänge des Kärntner Drautals. Irschen, Dellach und Berg im Drautal liegen malerisch am Hang und genießen die klimatischen Vorzüge der Sonnseite - Plusgrade und herrlicher Sonnenschein, während auf der Schattseite Reif, Schnee, Eis und Grade um den Gefrierpunkt vorherrschen.

Ab Greifenburg wird das Tal weiter, der Schnee weniger und bei leichten Plusgraden fährt es sich noch einmal etwas leichter. Sachsenburg markiert den Zusammenschluss von Drau- und Mölltal, von hier aus geht es auf dem Drauradweg Richtung Spittal an der Drau. Abseits von vielbefahrenen Straßen ist man hier auf Güter- und Feldwegen, kleinen Straßen und Radwegen unterwegs. Die geplante Runde um den Millstätter See muss aufgrund von Zeitgründen ausfallen, von Spittal an der Drau gehts per Zug zurück nach Osttirol.

Tag 1: 72,4 KM; 14% der Festive 500 erreicht

25. Dezember 2019

Tag 2 meiner Festive 500 bringt die Verschärfung eines Festive 500-Aspekts, den ich im Vorfeld wohl nicht zu Ende gedacht habe. Natürlich macht es einen riesigen Unterschied, WO man die 500 Weihnachtskilometer abspulen möchte. Es gibt da in Singapur oder Indonesien diesen einen Radfahrer, der jedes Jahr in den ersten Stunden der Festive 500 die kompletten 500 Kilometer abspult. Jetzt ist die Bewältigung der großen Distanz natürlich an sich eine enorme Leistung, bei lauen und gemütlichen Temperaturen fällt dies allerdings leichter als bei jenen Witterungsbedingungen, die uns in einem durchschnittlichen Winter in den Alpen oder in Mitteleuropa begegnen. Man hat daher mit widrigen Bedingungen zu rechnen - egal ob das Regen und Nebel, Schnee und Eis oder Minusgrade sind. Ich verbringe die Feiertage mittlerweile traditionell in Osttirol - schön zum Skifahren, schön zum Langlaufen aber auf dem Rad wird man im Dezember eher schief angeschaut. Hinzu kommt, dass die letzten Jahre klimatisch sehr gutmütige Weihnachten produziert haben, schneefrei und verhältnismäßig warm. Mit diesen Erfahrungswerten bin ich im Vorfeld auch meine Touren- und Routenplanung angegangen. Die Realität von 2019 sieht allerdings anders aus: Radwege sind plötzlich gespurte Langlaufloipen, Wege im Schatten der Berge sind ob des Eises nahezu unbefahrbar und die Temperaturen sind für ein Weichei aus der Stadt wie mich doch eher außerhalb des Wohlfühlbereichs.

Meine via Komoot zusammengebastelten Routen und Wege sind daher nur bedingt brauchbar, viele von den "epischen" Bildern und Abenteuern, die ich im Sinne hatte, zerbrechen an der Realität des alpinen Winters.

Tag 2 zwingt mich wetter- und zeitbedingt zu einer meiner Standard-Runden, wenn ich in Osttirol mit dem Rad unterwegs bin, der Talboden-Runde. Dabei wird der Lienzer Talboden nach allen Seiten hin mehr oder weniger ausgefahren, mit ein paar kleinen "Schupfern" drinnen, etwas Bundesstraße und schönen Nebenwegen. Wieder ist es auf der Schattseite frisch und eisig, in der Sonne etwas wärmer und wunderschön, wie direkt von einer Postkarte abgemalt. Die Runde nütze ich gleich auch um festzustellen, welche meiner Wege und Radwege befahrbar sind oder nicht. Isel- und Pustertal fallen leider flach, einzig das Drautal kann am Radweg befahren werden. 54 Kilometer und knapp 480 Höhenmeter später werden die nassen Kleidungsstücke über den Ofen gehängt und mit der Familie gemeinsam auf Weihnachten angestoßen.

Nach zwei Tagen stehen 126 Kilometer in den Büchern, mein "Guthaben" beträgt einen Kilometer - nicht gerade ein großer Polster...

Tag 2: 125,5 KM; 25% der Festive 500 erreicht

26. Dezember 2019

Manchmal kommt es anders als man denkt... - zum Beispiel, dass nach 10 Kilometern das Vorderrad zu wabern beginnt, die Luft langsam weniger wird, das Fahrgefühl nicht mehr ganz so souverän ist. Mein BMC URS Testbike ist als Tubeless aufgesetzt, daher ist es erstmal kein Problem, weiterzufahren. Ich möchte nämlich nicht bei Minusgraden auf der Schattseite des Tals am Rad herumhantieren sondern lieber auf einer gemütlichen Bank in der Sonne. Doch auch daraus wird nichts, die Luft ist draussen. In Oberdrauburg wird der Reifen inspiziert, nachgepumpt, geflucht. Der Mantel kommt runter, Milch überall - irgendwie werde ich mit Tubeless nicht warm... Schaden am Reifen kann ich keinen finden, auch das Ventil scheint noch ganz und dicht, dennoch bleibt die Luft nicht drinnen. Ersatzschlauch habe ich natürlich einen mit, gewechselt ist auch schnell - die Finger werden in wenigen Momenten an der frischen Luft klamm. Das Aufpumpen der großvolumigen Schläuche dauert mit der Handpumpe eine gefühlte Ewigkeit und beim Abziehen der Pumpe passiert es - das Ventil geht mit und die Luft ist wieder draußen. Doch damit nicht genug, hat sich auch noch das Ventil in der Pumpe verkeilt. Mit Betteln und Bitten, Gewalt und Fluchen und meinen eiskalten Fingern bekomme ich es auch nicht mehr heraus. 19,3 statt der geplanten 120 Kilometer werfen natürlich auch meinen kompletten Festive 500-Plan über den Haufen. Aber wenn schon stranden, dann zumindest gleich neben dem Bahnhof. Also mit dem Zug zurück nach Lienz und Wunden lecken - der luftlose Walk of Shame vom Bahnhof zurück nach Hause ist genug für die geschundene Ehre.

Die Familie ist währenddessen hin- und hergerissen zwischen Empathie und Mitleid für den offensichtlich geistig umnachteten Radfahrer, unterstützender Motivation und Ärger über die stundenlangen Abwesenheiten. Dennoch stellt sich kurzfristig so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl ein, welches dann auch gleich in ein gemeinsames Brainstorming darüber mündet, wie denn die fehlenden Kilometer des heutigen Tages am besten wettgemacht werden können. Vorhergesagter Schnee, Regen und starker Wind gepaart mit der Aussicht auf einen weiteren "Patschen" führen zur Idee, in der Nähe des Zuhauses zu bleiben und hier irgendwie Kilometer abzuspulen. Unterschiedliche Runden und Varianten werden diskutiert, am Ende entscheide ich mich für eine Runde direkt vor dem Haus, auf der ich am nächsten Tag ein paar Kilometer wiedergutmachen kann.

Tag 3: 145,8 KM; 29% der Festive 500 erreicht

27. Dezember 2019

Vier Stunden sind heute eingeplant, der Blick aus dem Fenster ist nicht sehr verheißungsvoll - leichtes Tröpfeln und Wind, aber daran habe ich mich mittlerweile irgendwie gewöhnt. Und tatsächlich ist es so, dass mit der richtigen Kleidung viel vom Schrecken des schlechten Wetters verloren geht. (Und ja, ich hasse den Spruch "Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung"). In weiser Voraussicht habe ich meinen halben Kleiderkasten nach Osttirol mitgeschleppt, alles was nach Winter aussieht, nach Merino riecht oder mit Primaloft gefüllt ist.

An den Füßen Merino-Socken (Fingerscrossed oder Isadore), Heizpads auf die Zehen und die dicken Fizik-Winterschuhe. Zwei Hosen (RH77 und Isadore), die jeweils mit flauschigem Thermo-Material ausgeführt sind. Einzige Schwachstelle - wie leider bei fast allen Hosen, die ich bisher hatte - ist die goldene Mitte. Ich hoffe meine Zeugungsfähigkeit wird darunter nicht allzu sehr leiden.

Der Oberkörper bekommt drei Schichten gegönnt - Merino Baselayer (Isadore), Langarmtrikot (Isadore, RH77) und darüber noch eine Jacke (Isolation - RH77/Isadore oder aber die Primaloft Jacke von Löffler). Auf den Kopf kommt meine alte Rapha-Haube, die Hände bekommen auch zwei Lagen - einen Merino Liner-Handschuh von Rapha und darüber die großartigen weil langen und dichten Isadore-Handschuhe). Dieses Setup variiere und mische ich durch, je nachdem, was ich gerade für wichtig erachte - tatsächlich sind die Unterschiede allerdings gering. Am Körper selbst sind maximal die ersten Kilometer frisch, sobald man allerdings auf Betriebstemperatur ist oder stetig vor sich hin pedaliert, wird es meistens angenehm warm oder zumindest erträglich. Probleme treten dagegen an den äußeren Enden des Körpers auf: Zehen werden kalt, egal wie gut man sie verpackt, unabhängig der Zahl der Wärmepads oder der Qualität der Schuhe. Die Frage ist hier nicht "ob", sondern eher "wann". Den Moment des Erfrierens hinauszuzögern ist also die eigentliche Aufgabe. Gleiches gilt für die Hände, die - wie die Füße auch - ständig dem Fahrtwind ausgesetzt sind. Ich helfe mir mit häufigem Umgreifen am Lenker, damit nicht ständig die gleichen Stellen exponiert sind und fahre ab und zu für ein paar Meter freihändig und verstecke dabei die Hände unter den Achseln oder hinter dem Rücken.

Derart vorbereitet besteht mein 4. Tag der Festive 500 aus der am Vorabend ausbaldowerten Idee, vor der Haustüre Runden zu fahren. Der ausgesuchte Kurs ist 1,7 Kilometer lang, führt teilweise auf einem Radweg, zumeist aber - auf weihnachtsbedingt leergeräumten Straßen - durch ein nahes Gewerbegebiet. Pausen zur Verpflegung, zum Aufwärmen oder im Falle eines Defekts kann ich jederzeit zuhause einlegen - so eine Möglichkeit eines Boxenstopps beruhigt. Bei jeder Passage der imaginären Start- und Ziellinie drücke ich auf den Lap-Button meines Wahoos, dieser zeigt jeweils um die 4 Minuten Fahrzeit für die 1.740 Meter. Die Menschen, die mir auf meinem Rundkurs begegnen, auch sie schwanken zwischen Verwunderung und Mitleid - vor allem jene, die nicht innerhalb der vier Minuten Rundenzeit wieder verschwunden sind, denen ich also mehrmals begegne. Die Mitarbeiter des Autohauses an der Strecke kennen sich irgendwann gar nicht mehr aus, ignorieren aber wohl den Radler, der da seine Runden dreht. Auch die Angestellten der Bäckerei kümmern sich nicht um mich, umgekehrt weht mir aber in jeder Runde der Duft frischgebackenes Brotes um die Nase.

Bis zum Mittagessen möchte ich fahren, so viele Kilometer wie möglich für die Festive 500 hamstern. Unterwegs bleibt viel Zeit zum Nachdenken, ich erfinde das "1. Internationale Peggetz Winterkriterium" mit mir als einzigem Starter (mit dementsprechend aussichtsreichen Gewinnchancen!), rekapituliere die ersten Tage der Festive 500 und kann auch abseits des Radelns den einen oder anderen Gedanken wälzen. Das Format eines Kriteriums wird meiner Meinung nach ja wieder an Attraktivität gewinnen und hoffentlich auch eine Art Renaissance erleben. Große Attraktivität für Zuschauer gepaart mit einem erheblich geringeren Organisationsaufwand sind eine Kombination, mit denen große Rennen und Rundfahrten zunehmend ihre Probleme haben (vor allem mit zweiterem). Ein richtiges Rennen würde wohl über eine kürzere Distanz führen als mein Experiment hier, ich genieße aber die körperliche und mentale Herausforderung. Stetiges Abspulen von Runden hat mir noch nie große Probleme bereitet, so stehen am Ende dann auch 58 Runden auf dem Wahoo und mit 101 Kilometern kann ich mein Festive 500-Konto wieder etwas aufbessern.

Tag 4: 247,0 KM; 49% der Festive 500 erreicht

28. Dezember 2019

Für diesen Tag ist besseres Wetter vorhergesagt - im Sinne von weniger Wolken und mehr Sonne. Allerdings gesellen sich tiefe Temperaturen und starker Nordwestwind dazu. Die Routenplanung ergibt daher - wie schon am ersten Tag - einen "Transfer Ride", also eine Rückfahrt mit dem Zug. Noch einmal durchs Drautal zu fahren reizt mich nicht - es wäre dies das vierte Mal innerhalb von vier Tagen und den Abschnitt bis Oberdrauburg muss ich ohnehin wieder zurücklegen. Die erste Challenge des Tages soll der Gailbergsattel werden, an sich keine große Prüfung aber unter winterlichen Bedingungen und bei knappen Minusgraden doch nicht ganz so ohne. Am Gailbergsattel angekommen bläst dann tatsächlich der Wind - viel stärker als geplant und aus allen Richtungen, sodass ich kurz mein heutigen Vorhaben zu zweifeln beginne. Am Sattel selbst scheint mir die Sonne ins Gesicht und alle Zweifel sind verflogen. Ein kurzer Abstecher auf der Abfahrt vom Gailbergsattel führt mich - traditionell - zu den Wurzeln einer meiner Familienhälften nach Laas und bringt eine kurze Verschnaufpause, bevor es in die restliche Abfahrt nach Kötschach hinuntergeht. Ich rolle den Berg nur hinunter, reduziere sogar bewusst die Geschwindigkeit, weil der eisige Fahrtwind meine Finger und Zehen ans Limit bringt. Es fühlt sich an, als würden Nadeln in die Finger und Zehen stechen und das eigentlich Grausliche daran ist, dass man während der Fahrt weder durch Positionswechsel noch durch andere Maßnahmen Linderung bewirken kann.

Ich erreiche das Gailtal unter einer dicken Decke von Nebel, die zwar da und dort die Sonne durchblitzen lässt, gleichzeitig sind aber auch die Temperaturen noch weit in den Minusgraden und der Radweg, der mich gen Osten führen soll ist unter einer fragwürdigen Schnee- und Eisschicht verborgen. Die ersten 10-15 Kilometer friere ich mich über den Radweg, unter Reif und Schnee verborgene kleine Eisplatten lassen meinen Puls immer wieder kurz hochschießen. Erst kurz vor Tröpolach ist der Nebel endgültig verschwunden und die einzige Trübung der Sonne erfolgt durch die Schneekanonen des Skigebiets am Nassfeld, dass sich über meiner rechten Schulter erhebt.

Um nicht permanent auf der Schattseite fahren zu müssen und meiner Seele auch etwas Sonnenschein zu gönnen, fahre ich nicht auf dem offiziellen Radweg sondern auf einem Begleitweg der Gail. Mit meinem Gravelbike bin ich für derartigen Untergrund grundsätzlich perfekt ausgerüstet, jedoch bringt die Sonne mit sich, dass die schmelzende Schneedecke den darunterliegenden lehmigen Erdboden in eine zähe Masse verwandelt, die einiges an Kraft erfordert. Mein Durchackern dieser Wege richtet auch mein Rad entsprechend zu, URS erträgt allerdings mit stoischer Gelassenheit meine Schmutzattacken auf Tretlager, Antrieb und Rahmen und verrichtet einwandfrei seinen Dienst.

Bei Hermagor wechsle ich auf den Drauradweg 3a, eine weitere Ader des in Kärnten sehr gut ausgebauten Radwegenetzes. Auf den unberührten und mit Schnee bedeckten Wegen, die vor mir liegen, entdecke ich plötzlich Reifenspuren und wähne mich nicht mehr als einzigen Verrückten, der hier mit dem Rad unterwegs ist. Ich finde den gesuchten Radfahrer nicht, für meinen Kopf ist es allerdings eine willkommene Abwechslung - schließlich bin ich schon recht lange alleine auf meinen Wegen unterwegs.

Vor mir erhebt sich der Dobratsch, der Villacher Hausberg und damit kann ich ungefähr erahnen, wie weit mich der heutige Tag noch führt. Am Fuße des Dobratsch führt der Radweg durch wunderbare Nadelwälder, über asphaltierte und geschotterte Wege, wellig und flott geht es dahin - ich bin kurz in so etwas wie einem Flow, bin ganz bei mir selbst. Bei Arnoldstein beginnt es zu rauschen, das Geräusch kommt näher und nach dem Überqueren einer Brücke, fährt man für kurze Zeit neben der Autobahn, die sich an dieser Stelle aus Italien Richtung Villach und Klagenfurt schlängelt. Dieser Streckenabschnitt ist mir noch von der Tour de Franz im Sommer in Erinnerung, da hatte es allerdings rund 30 Grad mehr. Die Fußgeherfrequenz steigt, mit ihr auch Hunde, Pferde und andere Gesellschaft - man nähert sich der Stadt. Noch immer entlang der Gail führt der Radweg bis an den Stadtrand von Villach, das heutige Etappenziel ist erreicht. Richtung Bahnhof benütze ich einen der vielen Radwege in der Stadt, zuerst steuere ich noch fälschlicherweise den Westbahnhof an, danach den "richtigen" Hauptbahnhof. Ich überfalle eine Tankstelle am Weg und nehme alles mit, was aus Plunder, Nougat, Cola und Marmelade besteht und warte auf meinen Zug zurück nach Lienz.

Tag 5: 370,1 KM; 74% der Festive 500 erreicht

29. Dezember 2019

Es ist Sonntag und damit Tag des Herrn. Die einen gehen in die Kirche, die anderen - scheinbar nicht minder religiös - beten den österreichischen Ski-Gott an, der in Form des Damen-Skiweltcups in Lienz Halt macht. Auch ich fröhne einer Art Spiritualität beim Radfahren, obwohl der Blick aufs Thermometer eher an Kasteiung und Selbstgeißelung denken lässt. Bei -8 Grad bin ich noch nicht oft in meinem Leben nach draußen gegangen, um Rad zu fahren. Festive 500 kümmert sich allerdings nicht um derartige Befindlichkeiten und somit verlasse ich unter leichtem Kopfschütteln der Familie das Haus, um - nun bereits zum fünften Mal - im Talboden Richtung Oberdrauburg zu fahren. Dank Skirennen läuft der Verkehr nur in eine Richtung, die Bundesstraße lässt mich vergleichsweise rasch ein paar Kilometer sammeln. Auf der Rückfahrt wirft mir die Schattseite über eine knappe Stunde die vollen -7 oder -8 Grad entgegen, ich überlege kurz aufzuhören oder irgendwo einzukehren, doch Pausen machen das ganze Unterfangen nicht wirklich einfacher. Und halbwegs aufgewärmt wieder aufs Rad zu steigen ist in vielen Fällen die größere Qual als das Weitermachen.

Ich lege einen kurzen Stopp beim Zielhang des Skirennens ein, auch als Nicht-Fan haben derartige Ereignisse natürlich ihren Reiz. Der weitere Weg führt heute hinein ins Iseltal und wieder zurück. Meine Hoffnung auf einen schneegeräumten Isel-Radweg erfüllt sich leider nicht, auf der Bundesstraße ist es eher spaßbefreit aber immerhin scheint die Sonne, -4 Grad sind da schon eine bedeutende Verbesserung.

80 Kilometer stehen am Ende auf dem Wahoo, genau was ich wollte. Damit bleiben für die letzten beiden Tage noch 50 Kilometer, die für die Erreichung der Aufgabe fehlen. Und nebenbei wurde auch noch die eigene Vorgabe erfüllt, zumindest an einem der acht Tage nicht fahren zu müssen und stattdessen etwas mit der Familie unternehmen zu können.

Wie auch schon an den letzten Tagen hat sich bei niedrigen Temperaturen ein massives Problem ergeben, jenes der Verpflegung nämlich. Gels sind an sich keine Herausforderung, ihre Konsistenz ist auch bei niedrigen Temperaturen nahezu unverändert und damit auch deren Verzehr. Bei Riegeln wird die Sache mitunter schon etwas komplizierter. Wer schon einmal versucht hat, einen halbgefrorenen Clifbar oder Powerbar runterzubekommen, weiß wovon ich spreche. Mein Tipp ist so einfach wie banal, nämlich den Riegel möglichst nah am Körper zu tragen und damit warm zu halten. Die Trikottaschen unter der Jacke reichen dafür in der Regel aus, alles was außen liegt ist zu exponiert. Richtig schwer wird es allerdings mit den Trinkflaschen, diese sind permanent den niedrigen Temperaturen ausgesetzt. Ein Rucksack mit einer Trinkblase, die nahe am Körper anliegt, wäre ein gangbarer Weg aber mit Rucksack fühle ich mich am Rennrad nicht wohl. Thermo(s)flaschen sind auch eine Variante, allerdings halten derartige Flaschen die Flüssigkeit auch nur minimal länger warm (außer es sind dezidierte Thermosflaschen). Und dann gibt es da noch den Mpemba-Effekt, demzufolge es - frei interpretiert - auch keinen Sinn macht, besonders warme Getränke in normale Flaschen einzufüllen, da diese noch schneller abkühlen als kühle. Ich habe so gut wie nichts getrunken bei meinen Ausfahrten, weil meine Flaschen stets innerhalb von kurzer Zeit so kalt waren, dass nur noch kleine Schlücke möglich waren, ohne dass einem auch noch innerlich ganz kalt wird. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie man das am besten handhabt.

Tag 6: 450,3 KM; 90% der Festive 500 erreicht

30. Dezember 2019

Finale! Eigentlich bin ich ja mit allerhand Routen, Ideen und Bildern von epischen Abenteuern nach Osttirol gekommen. Man ist von Instagram und dergleichen ja mittlerweile auch schon insofern verklärt, als jedes Unterfangen "außergewöhnlich", "besonders" oder eben "epic" sein muss. Eine normale Ausfahrt in schöner Umgebung ist da vermeintlich ja schon fast nichts mehr, über das man berichten könnte. Die Realitäten des Osttiroler Winters haben mich aber in Demut gelehrt, genauso wie die Erkenntnis, dass 500 Kilometer innerhalb einer Woche keine einfache Aufgabe darstellen.

Und so mache ich mich erneut auf den Weg durch den Lienzer Talboden, die Strecken zu wiederholen und immer wieder abzufahren empfinde ich dementsprechend auch nicht als Schande sondern schlicht und ergreifend als Maximum dessen, was unter diesen Rahmenbedingungen möglich ist. Und mit dieser Einstellung fällt es auch wieder leicht, das Schöne zu sehen: die Berge, die Sonne, die Landschaft, die Kirchen an den Berghängen, die Höfe auf den Hügeln - all das, wofür es keine epischen Abenteuer braucht sondern nur den Schritt vor die Tür.

Gut 54 Kilometer später kann ich die hartnäckigen Minusgrade endgültig vergessen, den Heimathafen ansteuern aber nicht ohne vorher noch bei der Tankstelle eine Flache Sekt in meine Trikottasche zu stecken. Die Erledigung der Festive 500 soll einen würdigen Abschluss erfahren.

Ein letztes Mal den Wahoo synchronisieren, die Fotos des Tages bearbeiten und das Ganze auf Komoot und auf Strava hochladen - das ist mittlerweile zum Ritual geworden. Auf der Seite der Festive 500-Herausforderung wandert der Balken nach rechts, erreicht die 100% und überschreitet diese Grenze geringfügig. Ein Fenster poppt auf, Gratulation zur absolvierten Challenge, Halleluja.

Tag 7: 504,9 KM; 101% der Festive 500 erreicht

31. Dezember 2019

8:30, zum ersten Mal seit acht Tagen muss ich nicht darüber nachdenken, wohin ich heute fahre, was ich anziehe oder wie weit ich fahren sollte. Zum ersten Mal kann ich das machen, was der Rest der Familie und vermutlich so gut wie jeder andere Mensch in Osttirol zu dieser Jahreszeit macht, wenn er Sport machen will - in meinem Fall ein paar Runden auf den Langlauf-Skiern.

Zurück von der Skating-Runde folgt auf Strava eine kurze Krise. Plötzlich scheinen in meiner Challenge nur noch 495 Kilometer statt der tatsächlich gefahrenen 505 auf, Erreichungsgrad 98%. Schnell mache ich Screenshots von allen Mails und Nachrichten, die ich bereits bekommen hatte, in denen samt und sonders steht, dass ich die Herausforderung absolviert habe. Mal schauen, was meine Anfrage an Strava bringt... Auch bei eventuellen Ungenauigkeiten oder Neuberechnungen sollte ich mit 505 Kilometern auf der sicheren Seite sein. Was ich allerdings in den letzten Tagen erlebt habe, kann mir ohnehin keiner mehr nehmen. Ebenso wie es an sich völlig egal wäre, ob ich dafür nun ein virtuelles Abzeichen oder einen kleinen Stoff-Aufnäher bekomme. Die Tatsache, dass ich für 500 Kilometer am Rad gesessen bin, bringt ohnehin mehr mit als nur das formale Absolvieren der Challenge. Ich konnte ohne jegliches schlechtes Gewissen Kekse in mich hineinstopfen, war gemütlich im Ausdauermodus unterwegs und hab dementsprechend (hoffentlich) schon eine kleine Trainingsbasis fürs Frühjahr gelegt und hab einen großen Kampf gegen den inneren Schweinehund gewonnen.

Tipps

Abschließend möchte ich die Erkenntnisse meiner Festive 500-Woche in einige Tipps fließen lassen, für folgende Jahre und andere Radlerinnen und Radler, die eventuell etwas Inspiration brauchen.

Möglichst früh, möglichst viel

Gerade die ersten beiden Tage sind oft für Feierlichkeiten reserviert. Wer allerdings schon zu Beginn aussetzt oder Kilometer auf später verschiebt, tut sich nichts Gutes. Es steigt damit der Druck und die anfangs noch vorhandene Freude an der Herausforderung wird vermutlich zunehmend schwinden.

Routenwahl

Die Routenwahl ist aus zweierlei Gründen relevant. Einerseits hat die Tourenplanung großen Einfluss darauf, wie schnell man die 500 Kilometer erreicht - flach gewinnt vor bergig. Zweiter Aspekt ist das Klima - je nachdem, in welcher Region man unterwegs ist, kann man sich mit einer geschickten Routenwahl das Leben einfacher oder lebenswerter gestalten. Lange Abfahrten bei niedrigen Temperaturen tun dem Körper nichts Gutes.

Rad

Natürlich auch in Abhängigkeit der Region, des Terrains und der Pläne ist die Wahl des geeigneten Rads essentiell. Ich war sehr glücklich mit der Wahl des Gravelbikes von BMC, es war der exakt richtige Erfüllungsgehilfe für meine Challenge. Sich nicht um (speziell im Winter) schlechten Asphalt kümmern zu müssen, Schotter und Splitt auf der Straße ignorieren zu können und auch auf Schnee und Eis etwas mehr Sicherheit zu genießen, ist das eine. Bei der Routenwahl auch Schotter, Erde und Waldwege miteinbeziehen zu können, das andere - eine enorme Bereicherung der Routenvielfalt und des damit verbundenen Fahrspaßes.

Rücklicht

Es mag banal erscheinen aber ich habe für die Festive 500 ein neues Rücklicht angeschafft. Dieses hat Leuchtstufen, die ehrlicherweise mit keinem Gesetz der Welt mehr vereinbar sein dürften, allerdings hat es mir die Sicherheit gegeben, mit der ich auch auf viel befahrenen Bundesstraßen und bei schlechten Lichtverhältnissen beruhigt unterwegs war.

Rahmentasche

Auch neu für mich war die Rahmentasche, wobei ich mich ja grundsätzlich eher gegen allzu viel Ballast und Gepäck auf dem Rad ausspreche. Hintergedanke war, immer einen trockenen Ersatz-Baselayer mitzuführen, eine weitere Jacke und eine Außenschicht, Ersatzschlauch und Werkzeug nicht im Trikot verstauen zu müssen und auf langen Touren auch etwas mehr Verpflegung mitzuführen. Die wasserdichte Ortlieb-Tasche konnte alle diese Erwartungen erfüllen, war ein praktischer Begleiter und hat sich auf diesem Wege wohl auch für künftige Herausforderungen wie das Race Around Austria Unsupported qualifiziert.

Gesellschaft

Was ich nicht hatte, kann wohl ein großer Vorteil bei der Bewältigung von 500 Kilometern in acht Tagen sein - Gesellschaft, jemand, der mitleidet, jemand der motiviert und mitfühlt.

Familie

Die Familie kann natürlich auch motivieren und unterstützen, wird jedoch nie die "Innensicht" haben, das verstehen, was man am Rad durchlebt und die Motive, warum man das ganze auf sich nimmt. Umgekehrt ist es essentiell, der Familie auch etwas zurückzugeben - die Entbehrungen und die Abwesenheit sind immerhin beträchtlich!

Keinen Druck machen

Entspannt zu bleiben ist wohl auch ein Schlüssel zum Erfolg. Egal, ob man mit den Kilometern hinten ist, ob man ein technisches Problem hat oder aber - wie oben erwähnt - Sorge hat, weil man “nur” vermeintlich ereignislos und unberichtenswert auf allseits bekannten Wegen hin- und herrollt. Spaß haben, genießen und das Ganze zu spüren, sollte im Vordergrund stehen. Und rechtfertigen muss man sich sowieso immer nur vor sich selbst!

Genießen und Feiern

Ganz in diesem Sinne gilt es natürlich auch, den Erfolg entsprechend zu zelebrieren. 500 Kilometer sind in meinem Fall rund 10 Prozent meiner aktuellen Jahreskilometerleistung. Angesichts meines Fitnesszustands bin ich daher auch aus sportlicher Sicht mit meinen Festive 500 sehr zufrieden. Schwerer wiegen allerdings trotzdem die Erlebnisse und die Dinge, die mir durch den Kopf gegangen sind, während ich rund 21 Stunden auf dem Rad gesessen bin. Damit kann ich mit aufgeräumten Gedanken und einem durchgelüfteten Hin in ein neues Jahr starten!