100 Kilometer Zwift
Ich bin Fan von Zwift - bis jetzt hat es kein anderes Programm geschafft, mich derart kurzweilig durch den Winter zu begleiten. Egal ob freies Fahren, eines der vielen Workouts oder die - mittlerweile gut organisierten - Group-Rides, es macht einfach Spaß und aufgrund der hohen Userzahl trifft man bei den derzeitigen Temperaturen mehr bekannte Gesichter auf Zwift Island als auf der Donauinsel.
Um informationstechnisch immer up-to-date zu sein, bin ich Mitglied in der Facebook-Gruppe Zwift Riders. Wer durch den Link jetzt versucht ist, sich den rund 26.000 Mitgliedern dieser Gruppe anzuschließen, sei jedoch vorab gewarnt - es gibt in dieser Gruppe nämlich grob zusammengefasst drei Handlungsstränge:
- Menschen posten Fotos von ihrer "Pain Cave". Abgeleitet aus der Tatsache, dass Winter- bzw. Rollentraining immer eine Qual und Schinderei sein muss, werden dort Fotos von dunklen Kellerabteilen, verschwitzten Unterlagsmatten, schmutzigen Handtüchern und provisorisch wirkenden Computer-Setups geteilt - offenbar je archaischer, desto besser. Am anderen Ende der Nahrungskette gibts aber natürlich auch Einige, die lieber Fotos davon machen, wie sie vor einem 200cm-Fernseher "leiden", das Pinarello F8 immer Richtung Strand ausgerichtet. So weit so gut...
- Das fundamentale Thema in der Zwift-Welt trägt das Kürzel "FTP". Die "Functional Threshold Power" beschreibt die Maximalleistung, die ein Radler bzw. eine Radlerin über eine Stunde aufrechterhalten kann. Als Zwift-Einstieg absolviert man einen FTP-Test, um sich in der Folge - getestet, markiert und kategorisiert - den Traininsprogrammen stellen oder mit anderen Radlern messen zu können. Dieser FTP-Wert wird nämlich durch das eingegebene Körpergewicht dividiert - das ergibt einen "Watt pro Kilo"-Wert, erst durch den werden die Fahrer auf Zwift vergleichbar. Zurück zur Facebook-Gruppe: Dort vergeht grundsätzlich kein Tag, an dem nicht irgendjemand postet, dass er gerade einen FTP-Test abgeschlossen hätte, auf ein Ergebnis von 300 Watt kommen würde und wo denn so Vergleichswerte der anderen Gruppenmitglieder lägen? Was darauf folgt ist ein gegenseitiges Übertrumpfen, Tief- und Hochstapeln, Fishing for Compliments, Anzweifeln der Werte des Anderen, und so weiter... Kurzfristig unterhaltsam, mittelfristig eher etwas für Evolutionstheoretiker.
- Apropos Fishing for Compliments - das restliche Drittel der Posts entfällt auf Zwifter, die der Community kundtun möchten, dass sie gerade eine der beiden "Langdistanzen" auf Zwift absolviert haben. Dazu muss man wissen, dass es auf Zwift Badges für Fahrten über 100 ("Metric Century") bzw. über 160 Kilometer ("Imperial Century") gibt. Oft genug werden diese Posts von bescheidenen Anmerkungen begleitet wie "Na war ja nicht so schwer" über "Ach, einfach mal so nebenbei erledigt" bis hin zu "Keine Ahnung, was da alle so schwierig daran finden".
(Ich möchte freilich niemandem diese Facebook-Gruppe madig machen und natürlich ist das Ganze von mir jetzt etwas überzeichnet - es finden sich in der Gruppe auch zahlreiche technische und andere Problemlösungen, die allerdings in der Masse der oben genannten Posts erstmal gefunden werden müssen).
Wenn ich die drei Punkte von oben jetzt auf mich beziehe, dann kann ich sagen: Ich habe keine "Pain Cave" - mein Rollentrainer steht bei Benützung vor dem Computer und wird dann wieder verräumt, ich habe keine ausgeklügelte Anordnung von Bildschirmen, Fernbedienungen, Unterlagsmatten, Ventilatoren und Beistelltischen. Was den FTP-Wert angeht - OK, ich hab einen Leistungstest gemacht und auf Zwift einen der FTP-Tests durchlaufen. Die Ergebnisse decken sich halbwegs gut, es gibt allerdings zahlreiche Betrachtungen und Studien darüber, wie sich Leistungswerte zwischen Straße und Rolle unterscheiden. Bleibt noch die Geschichte mit den Langstrecken auf der Rolle, also... Here we go!
100 Kilometer Zwift
Meine übliche Zwift-Dosis bewegt sich irgendwo zwischen 45 und 90 Minuten, je nach Streckenwahl und Intensität komme ich dabei in der Regel auf maximal 50-55 Kilometer. 100 Kilometer also? Ausprobieren!
Physisch
Draußen 100 Kilometer zu fahren ist an sich kein Problem. Auf der Rolle schaut es da etwas anders aus. Man sitzt auf der Rolle relativ starr und quasi eingezwängt, die Sitzposition ist so gut wie permanent die gleiche - das geht spätestens nach 90-120 Minuten aufs Sitzfleisch und die Nackenmuskulatur.
Die Beine sind ständig in Bewegung. Wer auch auf der Bahn unterwegs kennt die Besonderheit, nicht einfach mit dem Treten aufhören und den Freilauf genießen zu können. Einige Rollen - der Tacx Neo zum Beispiel - simulieren auch Bergab- und Freilauf-Passagen. Hat man diese Technik nicht, dann gilt Freilauf = keine Leistung = Stillstand. Wer also weiterkommen möchte, muss treten! Immer!
Kurze Phasen, in denen man aus dem Sattel geht sind für die Muskulatur eine willkommene Abwechslung - vor allem bei längeren und stetigen Belastungen. Auch auf der Rolle kann man in den Wiegetritt wechseln doch fühlt sich dieser nicht so an wie auf der Straße - immerhin ist das Rad noch immer eingespannt.
Verpflegung
Der fehlende Fahrtwind schwört Sturzbäche an Schweiß herauf - mein relativ kleiner Ventilator kann hier nur Schadensbegrenzung betreiben. Dementsprechend muss auf eine angemessene Flüssigkeitszufuhr geachtet werden! Das Mehrgewicht von ein paar Trinkflaschen fällt ja nicht ins Gewicht... Wenig überraschend muss auch bei längeren Einheiten auf der Rolle etwas zum Beissen her! Bananen, Riegel - was draußen funktioniert, tut drinnen auch seinen Dienst (solange man nicht darauf vergisst).
Organisatorisch
Sofern ich nicht mitten in einem Rennen stecke, steige ich bei jeder längeren Runde draußen irgendwann mal kurz vom Sattel - sei es für eine kurze Unterhaltung, ein Foto oder um dem Ruf der Natur zu folgen. Auf der Rolle fühlt es sich zuerst irgendwie komisch an, Pause zu machen. Da wirkt es schon seltsam, wenn man einfach mal kurz absteigen, in Küche oder Toilette gehen und seine Vorräte auffüllen kann - irgendwie sind da die Verhaltensweisen von Ausfahrten in der Natur abgespeichert, wo all das eben nicht so einfach geht.
Zwift-Spezifisches
Je nachdem wie ernst man die Sache nimmt, gibt es auch auf Zwift selbst einige Dinge zu beachten. Zu allererst wären da unterschiedliche Betrugsmöglichkeiten: Es stellt keine allzu große Herausforderung dar, sein Körpergewicht in Zwift auf Nairo Quintana-eske 50 Kilogramm einzustellen, und aus 3,2 W/Kg werden im Nu 5,5 W/Kg. Auf diese Weise lassen sich die 100 Kilometer bedeutend schneller absolvieren, wer allerdings derartige Methoden notwendig hat, dürfte ohnehin den Sinn der Sache nicht ganz verstanden haben.
Eine andere - absolut legale und legitime - Stellschraube ist allerdings die Wahl der Zwift-Strecke. Wer viel Idealismus besitzt kann die 100 Kilometer auf der Watopia Mountain Route abspulen und dabei auch noch knapp 2.000 Höhenmeter sammeln. Einfacher wäre es hingegen auf dem flachen Richmond-Rundkurs, wo man nach 100 Kilometern nur rund 200 Höhenmeter auf dem Konto hat (dafür muss man die 5km lange Runde 20 Mal abfahren...). Geschmackssache also - die Streckenauswahl ist ja mannigfaltig. Ich habe mich bei meinem Versuch für die Strecke "London 8" entschieden, ein Mittelding in Form einer 20km-Runde mit rund 200 HM je Runde. Für mich stellt dies den besten Kompromiss zwischen Leistung (1.000+ Höhenmeter sind schon ganz OK) und Abwechslung (mehr als fünf Mal möchte ich die Runde nicht fahren müssen) dar.
Letztendlich bekommt man ja auch noch bei jeder Zieldurchfahrt bzw. bei Sprint- und Bergwertungen die sogenannten "Power-Ups" - kleine Belohnung, die kurze Leistungssteigerungen mit sich bringen. Diese zu nützen, macht das Ganze zum Einen abwechlsungsreich, außerdem können sie über die eine oder andere Hürde hinweghelfen (und wenn es nur die Placebo-Wirkung sein sollte...).
Last but not least - Windschatten. Die Wirkung des Vordermanns wurde in Zwift einige Male überarbeitet und funktioniert nunmehr - nach anfänglichen Schwierigkeiten - ganz gut. Vor allem wenn man mehrere Fahrer vor sich hat, ist eine Erleichterung merkbar. Der Vorteil ist nicht so groß wie in Wirklichkeit und auch die Steuerung (also das genaue Nachfahren) ist nach wie vor etwas tricky, aber auch hier gilt: Und wenn es nur eine psychologische Stütze ist, dass man auf den Vordermann aufgelaufen ist - alleine das hilft schon, kurz durchzuatmen.
Psychisch
Damit sind wir beim schwierigsten Kapitel.
These 1: Es ist schrecklich langweilig!
Richtig!
Es ist tatsächlich nicht sehr kurzweilig, über drei Stunden in der gleichen Position auf einem Rad zu sitzen, das wiederum in eine Rolle eingespannt ist. Die Abwechlsung durch Pausen, Landschaft, Kollegen und Wetter, die man draußen hat, fehlt einfach - sehr! Musik hören ist eine Option, neben Zwift noch einen Film anzuschauen ist eine andere. Zwift selbst - mit all seinen Gamification-Features, seinen Zwischenwertungen, Aufmunterungen und Motivationshilfen - tut schon einiges, um den Fahrer bei Laune zu halten. Dennoch bleibt das Ganze eine ziemliche Prüfung für den Geist. Es sollten Methoden entwickelt werden, wie man währenddessen produktiv arbeiten kann - das wäre eine tolle Kombination!
These 2: Man muss sich ablenken!
Richtig!
Wie oben schon geschrieben - Filme, Musik, Telefonieren, Instagram, Facebook, Radblogs... Wer es etwas ruhiger angeht, kann vielleicht nebenbei ein Buch lesen. Wer Probleme hat, sich zu konzentrieren, zu fokussieren oder sich einer Sache voll und ganz zu widmen, der hat hier ein tolles Übungsfeld!
Die zuvor gescholtene Zwift-Community wird an dieser Stelle übrigens wieder teilweise rehabilitiert: Die zahlreichen "Ride-On"-Unterstützungsbekundungen, die man auf seiner Fahrt von bekannten wie auch wildfremden Menschen bekommt, motivieren mehr als man denkt!
These 3: Das ist sinnloser Masochismus!
Richtig!
Der Trainingseffekt ist vermutlich vernachlässigbar. Zumindest in meinem Trainingsverständnis sind keine langen Grundlageneinheiten auf der Rolle vorgesehen. 3,5 Stunden auf der Rolle sind definitv nicht die Regel und werden es - bei mir - auch sicher nicht werden. Wer dezidiert auf ein Ziel hintrainiert, der kommt vielleicht nicht drumherum, in meiner hedonistischen Auslegung des Radsports ist eine derartige Vorbereitung allerdings nicht zwingend vorgesehen...
Warum dann das Ganze?
Irgendwie macht es ja dann schon auch wieder Spaß... Ich hatte bei 50 Kilometern mein erstes psychisches Tief - da hab ich mich irgendwie noch selbst wieder rausgezogen. Bei Kilometer 80 wollte ich einfach nicht mehr, körperlich und geistig - noch eine Runde um diesen Kurs, kein Bock! Aber auch über diese Schwelle bin ich hinweg gekommen. Die Lehren daraus sind daher für mich auch welche, die ich im Rad-Alltag draußen, bei jeder Ausfahrt und auch in jedem Rennen verwenden und nützen kann. Anstrengen, Durchbeißen, Ziele erreichen! Klingt jetzt irgendwie sehr ehrgeizig und verbissen, ist es aber nur ein klein wenig.
Egal welchen Leistungsanspruch wir an uns selbst stellen und wie ehrgeizig wir unsere Ziele verfolgen: etwas Biss kann ab und zu nicht schaden. Um die psychische Komponente in diesem Spiel kümmern wir uns glaub ich nicht allzu oft - und genau hier hat mir genau diese "Ausfahrt" etwas gebracht! Und auch wenn es mühsam war, es gibt noch ein Achievement für die 160 Kilometer - das fehlt mir noch! ;)
Hier das (wenig spektakuläre) Strava-File dazu.