Fastenzeit
Meine Zeit in der Unterstufe des Gymnasiums ist jetzt schon gut 20 Jahre her und ich muss auch gestehen, dass ich mich nicht an allzu viele Dinge aus dem Religionsunterricht erinnern kann. Aber wir hatten einen guten und netten Lehrer, dessen Ausführungen zur Fastenzeit mir - aus welchen Gründen auch immer - in Erinnerung geblieben sind. Er gab uns damals folgende Eselsbrücke mit auf den Weg: Fasten merkt man sich am leichtesten anhand von „fasten your seatbelt“, geht es doch beim Fasten um ein „festigen“, „verfestigen“. Wann und warum dieses „Festigen“ mit Verzicht gleichgesetzt bzw. damit Diäten und Abnehmen umschrieben wurden, weiß ich nicht. Wer aber ab und zu den Fernseher aufdreht oder Radio hört, dem entgeht in keiner Werbung und in keiner Ratgeberkolumne der Hinweis auf die Fastenzeit und die damit verbundenen Verzichtsstrategien. Was heißt das nun für mich - was bedeutet das für uns Radfahrer*innen?
Rad-Fasten?
Mein rechter „Musculus Gluteus Minimus“ - das ist jener Muskel im Allerwertesten, der Becken- und Oberschenkelknochen verbindet (man verzeihe mir bitte anatomische Ungenauigkeiten!) - hat vor knapp zwei Wochen beschlossen, sich nachhaltig zu verkrampfen. Das wäre an sich noch nicht so schlimm, würde er im Zuge dessen nicht meinen Ischias-Nerv abdrücken, der vom Kreuz bis hinunter in die Zehen verläuft. Das Ganze äußert sich in Schmerzen im rechten Bein, genau genommen fühlt es sich wie ein andauernder Krampf an. Das hindert mich am Radfahren und nervt mich zunehmend - keine Angst, Linderung ist in Sicht und damit auch wieder das Aufsteigen auf den Sattel. Bis dahin bin ich jedoch zum Rad-Verzicht - Rad-Fasten quasi - verdonnert.
Ist das jedoch eine Strategie, die allgemein anwendbar ist? Ist Rad-Fasten eine Option des fastenzeitlichen Verzichts? Jedenfalls nein! Wir befinden uns im Frühjahr, das Training - egal ob strukturiert oder planlos - läuft. Die Kilometer, die jetzt abgespult werden, machen sich im Sommer dann doppelt bezahlt. Auf das Radfahren zu verzichten wäre eine Art Kasteien - sich zu kasteien kann charakterbildend sein, ich behaupte Radfahren ist um ein Vielfaches charakterbildender!
Fernseh-Fasten?
Das Fernsehen und die darin ausgestrahlten - sinnbefreiten - Werbebotschaften haben ja diesen Artikel quasi mitverschuldet. Verzichten wir also darauf? Grundsätzlich eine gute Fasten-Strategie! Wieder mehr Bücher lesen, mehr mit der Familie unternehmen, Gespräche führen, über Politik diskutieren (Achtung - Frustpotential!) - die Möglichkeiten sind zahlreich. Wenn es da nicht ein riesengroßes Aber gäbe… Die Rennsaison der Radprofis ist schon wieder in vollem Gang! Auf der einen Seite eher verzichtbare Rundfahrten wie jene in Abu Dhabi, viel wichtiger aber natürlich die Frühjahrsklassiker. Diesen Samstag zum Beispiel der Halbklassiker Omloop Het Nieuwsblad, am Sonntag Kuurne - Brüssel - Kuurne! Ganz zu schweigen von dem was noch kommt - Flandern-Rundfahrt, die Königin Paris-Roubaix… es wäre eine Schande, das zu versäumen! Das ist mit TV-Fasten jedenfalls nicht kompatibel. Ein Eurosport Player-Abo oder dergleichen kann auch Abhilfe schaffen, dann sitzt man zwar nicht vor dem Fernseher, Fasten wäre es aber dann keines mehr…
Social Media-Fasten?
40-tägige Facebook-Abstinenzen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit und ich sehe absolut den Nutzen und Mehrwert von solchen Vorhaben. Gerade im beginnenden Frühling lohnt es sich, den starren Blick vom Smartphone-Bildschirm zu heben, um die ersten blühenden Primeln zu bewundern. In Bezug auf die vorhin angesprochenen Radrennen erspart man sich auf Facebook außerdem die vielfachen Videos mit den „letzten 10 Kilometern des Rennens XY…“ (die hat man ja vorher eh schon im Fernsehen gesehen, wir TV-fasten ja nicht).
Ein weiterer (positiver) Punkt beim Social Media-Fasten wäre wohl, etwas Abstand zu gewinnen von der täglichen Filterblase, der man auf Facebook ausgesetzt ist. Meine Timeline ist ja mittlerweile recht einseitig befüllt - interessant auf jeden Fall, aber eben nicht sehr vielseitig… Radverkehr in der Stadt und die damit verbundenen Hürden, Schwierigkeiten, Unfälle und Beschwerden - Dopinggeschichten aus dem Profipeloton (*hüstel Salbutamol *hüstel) - das Video, in dem der Vogel Strauß den Radfahrer verfolgt (zum gefühlt 400sten Mal)… Hier sehe ich Potential für die Fastenzeit. Halt nicht auf die neuesten Beiträge auf 169k vergessen…
Alkohol-Fasten?
Laut Fernsehen neben der Diät der zweite große Fastenzeit-Klassiker und statistisch offenbar besonders bei Männern beliebt. Für mich persönlich jetzt nicht die riesige Herausforderung - mein Alkoholkonsum hält sich eigentlich sehr in Grenzen, insofern wäre auch die Überwindung des Verzichts recht überschaubar. Viele Sportler*innen haben ohnehin einen recht pragmatischen Zugang zu Alkohol, das Fasten-Potential daher aus meiner Sicht begrenzt.
Auto-Fasten?
Die meisten Radfahrer sind auch Autofahrer. Doch auch hier haben viele einen anderen Zugang. Der Sinn von 99% (oder sollen es 90, 80 oder 60% sein) aller Autofahrten in der Stadt erschließt sich mir ohnehin nicht so recht - und ich bin gelernter Verkehrsplaner! Wer mit dem Rad seine Wege zurücklegt, ist ja erwiesenermaßen gesünder, glücklicher, besser im Bett (ja, auch dafür gibt es Studien!) und volkswirtschaftliche Nutzeffekte gibt es darüberhinaus auch noch. Wer die Möglichkeit hat, sollte Autofasten daher als Verzichts-Strategie in Erwägung ziehen.
Essen-Fasten?
Bleibt also tatsächlich am Ende noch das über, was uns Werbung und Talkshows einreden wollen - weniger zu essen, abzunehmen, auf bestimmte Speisen zu verzichten. Ob das mit unseren Ernährungsplänen zusammenpasst muss jede*r für sich selbst herausfinden. Wer - wie ich - keinen Ernährungsplan hat, sondern einfach jeden Tag in der Früh an sich selbst hinunterschaut und im Zuge dessen ab und zu mal skeptisch eine Augenbraue heben muss, der weiß ohnehin, was notwendig ist. Weniger zu essen passt mir persönlich irgendwie nicht in den Plan. Ich bin absolut kein Mensch, der Diäten ausprobiert und habe das auch nicht notwendig, wenn ich allerdings versuche, weniger zu essen, dann habe ich den ganzen Tag Hunger und werden dadurch unleidlich. Keine Strategie also für mich und mein direktes Umfeld… Was schon eher funktioniert ist eine bewußtere Ernährung. Es kann nicht schaden, einen genaueren Blick auf das zu werfen, was man sich Tag für Tag zwischen die Kiefer schiebt, sich etwas mit Inhaltsstoffen zu beschäftigen, die Herkunft mancher Dinge kritisch zu hinterfragen. Ich rede hier nicht von einer Ernährungsumstellung, keinen Kenntnissen, die man nur im Studium der Ernährungswissenschaften erlangt oder davon, radikale Wege einzuschlagen. Einfach eine kurze Reflexion und Beobachtung der eigenen Gewohnheiten. Den gelegentlichen McDonalds-Besuch, das Langeweile-KitKat am Vormittag, spätes Essen am Abend…
Was jetzt?
Na gut, so richtige Strategien und Tipps ergeben sich daraus jetzt nicht. Im Endeffekt muss eh jede*r selbst entscheiden, was passt und was nicht. Zurück aber zu den Worten meines Religionslehrers. Fasten im Sinne von Innehalten, Reflektieren, sich neu einnorden… und damit auch zurück zu meinem Ischias. Die vergangenen zwei Wochen haben mich gezwungen, abzusteigen, mich hinzulegen und innezuhalten. Natürlich wäre ich in dieser Zeit lieber am Rad gesessen - auf dem Kickr oder noch besser draußen - aber es hat mir auch gezeigt, wie wichtig mir Radsport und Radfahren sind. So gesehen hat mir dieser Verzicht geholfen, die Wichtigkeit von Dingen in meinem Leben (neu) zu erkennen. Passt dann auch wieder irgendwie… Und die zwei Wochen Trainingsrückstand werde ich im Sommer zu gegebener Zeit als Ausrede aus dem Hut ziehen, wenn es mal nicht so gut gelaufen ist… :)