Befreit euch von allen Kabeln!
Nachdem in der Zwift-Community und in diversen Foren schon lange spekuliert und ungeduldig gewartet wurde, war es letzte Woche dann endlich so weit. Nach einem ca. dreimonatigen Beta-Test wurde die Zwift-version für Apples mobiles Betriebssystem iOS ausgerollt. Die App ist im Apple AppStore erhältlich.
Was ist Zwift überhaupt?
Zwift ist ein „Multiplayer-Online-Spiel“, wobei "Spiel" insofern zu relativieren ist, als der Schweiß und manchmal auch die Schmerzen durchaus real sind. Jeder, der einmal eines der intensiveren Workouts auf der Rolle absolviert hat und trotz mehrerer Ventilatoren auf voller Stufe eine Schweißlacke auf der Trainingsmatte hinterlässt, kann davon ein Lied singen.
Es stehen derzeit drei Strecken zur Auswahl, die virtuelle Insel Watopia, der Weltmeisterschaftskurs von 2015 in Richmond und eine Strecke durch London, die an den London Prudential Ride angelehnt ist. Sämtliche Strecken wurden und werden regelmäßig erweitert und durch Teilabschnitte ergänzt. Auf diesem Weg ist es möglich, unterschiedliche Streckenprofile und abwechslungsreiche Routen in Angriff zu nehmen - von der flachen Zeitfahrstrecke bis hin zum Aufstieg in schneebedeckte Berge. Wann welche Strecke "online" ist, kann man einem Kalender entnehmen, der in Zwift integriert ist. Wobei mit wenigen Handgriffen auch auf jenen Strecken gefahren werden kann, die gerade nicht online sind (Stichwort "Datum des Computers umstellen").
"Multiplayer" wird das Ganze durch die riesige Anzahl an anderen Radlern, die zu jeder Tages- und Nachtzeit auf der Strecke unterwegs sind - alleine ist man auf Zwift nie! Waren es vor rund einem Jahr - als Zwift online ging - rund 50-100 Menschen, so sind jetzt meistens zwischen 500 und 1000 "Spieler" online. Für Unterhaltung und Kurzweil ist daher immer gesorgt, man findet Gruppen, an die man sich dranhängen kann oder lässt seine Blicke einfach über die Liste der Radler schweifen und ist beeindruckt, ob der vielen Nationalitäten, die in Zwift vertreten sind. Wie oft fährt man schon in einer Gruppe mit Radlerinnen aus der Türkei, Kanada, Australien und Schweden - gleichzeitig! Außerdem haben auch eine Reihe von Rad-Profis Zwift für sich entdeckt (Ben King, Laurens Ten Dam, Matt Hayman hat angeblich auf Zwift den Grundstein für seinen Paris-Roubaix-Sieg in diesem Jahr gelegt). Und keineswegs weniger spannend: Man trifft auch immer mehr bekannte Gesichter - aus seiner Heimatstadt, seiner Radgruppe oder seinem Verein!
Das komplette Erlebnis (das englische Wort dafür gefällt mir sehr gut: "immersive" - "eindringend") stellt sich allerdings erst dann ein, wenn man Besitzer eines Smart-Trainers ist. Welche Rollentrainer "smart" sind, hat Zwift auf seiner Homepage im Detail aufgelistet, wesentlich ist eine elektronische Steuerung des Widerstands. Diese ermöglicht Zwift, in die Steuerung des Trainers einzugreifen und den Widerstand je nach Geländebeschaffenheit oder Trainingsintensität zu steuern. Geht es auf dem Bildschirm bergauf, steigt der Widerstand und umgekehrt. Wäre ja langweilig, den Berg einfach so raufzukurbeln... - in Zwift fühlen sich 10% Steigung auch so an!
Für strukturiertes Training bieten sich zahlreiche Workouts an, die in Zwift integriert sind - hier passt die Software den Widerstand der Rolle automatisch an das Intervall an, das heißt es muss kein Gang gewechselt werden und man muss nichts umstellen - einfach die Watt treten, die Zwift vorgibt. Wen der Ehrgeiz packt, der kann an einem der zahlreichen Rennen teilnehmen, wobei die Wettbewerbe auf Zwift etwas mit Vorsicht zu genießen sind. Es gibt unterschiedliche Leistungsgruppen (meistens A bis D), denen bestimmte Wattbereiche zugeordnet sind. Kann ich also beispielsweise über die Renndistanz 3,0 Watt pro Kilogramm treten, bin ich in Gruppe B, usw. In der Praxis werden diese Grenzen aber oft ignoriert, so wie auch oft genug alle anderen - vorab vereinbarten - Regeln ignoriert werden. Das führt bei Rennen oft zu eher chaotischen Situationen und es fällt schwer, mit Gruppen mitzukommen - gefühlt fährt hier jeder auf Anschlag. Der Windschatten von Gruppen (Zwift lässt dies in den Widerstand der Rolle einfließen) und sogenannte "Power-Ups" (kurzfristige Helferleins) können die eine oder andere Situation entschärfen, aber oft genug wird man Probleme haben, mit Gruppen mitzukommen. Aber am besten selbst ausprobieren und ein eigenes Urteil bilden!
So wie heute alles "Gamification" ist, hält auch Zwift einige spielerische Aspekte bereit, die stark zum Spaß an der Sache beitragen. Man steigt je nach gefahrener Distanz in Leveln auf, schaltet dabei Trikots, Räder und Laufräder frei, mit denen man sich schmücken kann. Und zahlreiche Unternehmen aus der Radbranche haben mittlerweile auch das Potential erkannt und veranstalten regelmäßig "Challenges", in denen man für bestimmte "in-game" Leistungen auch reale Preise (z.B. Fahrräder) gewinnen kann.
Alles das trägt zu einer unterhaltsamen und kurzweiligen Alternative für das Wintertraining bei - die rund 10 Euro pro Monat sind jedenfalls gut angelegt.
Bisher? ANT+
Bisher braucht man für Zwift folgende Zutaten:
- Zwift-Programm am Computer
- einen ANT+ Stick, damit der Computer die diversen Gerätschaften „versteht“ (Herzfrequenz, Trittfrequenz, Wattmesser, usw.)
- einen "smarten" Rollentrainer, meist heißt das mit elektronischem Widerstand, damit Zwift den Widerstand steuern kann. Hier gibt es mittlerweile eine Riesenauswahl an Trainern für jedes Budget und jeden Geschmack. Der neue Tacx Neo simuliert sogar Kopfsteinpflasterpassagen durch Rütteln!
- ein Rad – es gibt unterschiedliche Meinungen, ob man das teure Carbonrad in die Rolle einspannen soll oder nicht, da sich die entstehenden Kräfte durch das fixierte und eingespannte Hinterrad ungünstig auf den Rahmen auswirken könn(t)en… (Bei mir steht der Alu-Renner auf der Rolle)
- einen oder mehrere Ventilatoren, da sich durch den fehlenden Fahrtwind nach wenigen Minuten Sturzbäche an Schweiß ausbreiten (auf dem Rad, der Unterlagsmatte und dem Parkettboden)
ANT+ USB-Dongle in ein USB-Verlängerungskabel und dieses am Computer anstecken, Sensoren "aufwecken" und los gehts! Das war bis jetzt das Standard-Prozedere.
Jetzt: Zwift auf iOS
Um das gleich am Anfang klarzustellen: Die Zwift-Version auf iOS ersetzt nicht die Desktop-Version! Es ist vielmehr eine Erweiterung der Möglichkeiten und eine weitere (vielleicht praktischere) Option! Doch der Reihe nach!
Eine der größten Herausforderungen dürfte gewesen sein, das doch recht rechen- und speicherintensive Programm in ein Mobiltelefon-verträgliches Format zu bringen. Unter diesem Gesichtspunkt ist verständlich, dass das iOS-Gerät ein paar Mindestanforderungen erfüllen muss. Diese sind:
- iOS 9.0 oder höher
- iPhone 5S oder höher
- iPad Air oder höher
- iPad mini2 oder höher
- iPad Pro
- iPod touch (6. Generation)
Inhaltlich hat sich - und das ist natürlich nicht negativ gemeint - wenig bis nichts verändert. Aber es ging ja nicht um ein neues Programm sondern um die Erweiterung auf eine weitere Plattform. Bluetooth also! Es war in den letzten Monaten schon bemerkbar, dass viele Gerätschaften zusätzlich zum etablierten ANT+Protokoll auch Bluetooth mit auf den Weg bekommen haben - genauer gesagt handelt es sich um Bluetooth LE (das "LE" steht für Low Energy). So hat beispielsweise mein Stages-Powermeter auch eine Bluetooth-Schnittstelle eingebaut, über die Daten an entsprechende Geräte gesendet werden können, aber auch Geräte- und Firmwareupdates sind einfach über das Mobiltelefon möglich.
Für Zwift auf der iOS-Plattform ist also notwendig, dass alle Geräte über Bluetooth miteinander kommunizieren. Die meisten Smart-Trainer der letzten 1,5 Jahre beherrschen neben ANT+ auch Bluetooth. Schwieriger wird es bei anderem Zubehör - bei Trittfrequenz, Geschwindigkeit, Powermeter und Herzfrequenz war es uns bisher wichtig, dass diese mit dem Radcomputer kommunizieren können - in fast allen Fällen über ANT+! Hier wird es vielleicht kurz etwas verwirrend... Je nach Smart-Trainer bekommen wir Watt, Trittfrequenz und Geschwindigkeit direkt von der Rolle! Wer einen extra Sensor für Geschwindgkeit und Trittfrequenz am Rad montiert hat, kann diesen für Zwift deaktivieren (oder einfach nicht koppeln). Wer die Watt direkt von einem Powermeter bekommen möchte, muss sicherstellen, dass dieser Bluetooth beherrscht. Alles nicht so wild bzw. alternativlos... Einzig die Herzfrequenz - hier kommt man um einen eigenen Bluetooth Herzfrequenzgurt nicht herum. Davon gibts derzeit einige am Markt, das populärste Modell kommt von Wahoo (einem Vorreiter der Bluetooth-Technologie beim Radzubehör.
Obwohl, eine Alternative gibt es dazu schon - eine sogenannte "Bridge". Wie anfangs schon erwähnt, es müssen alle Signale via Bluetooth beim Telefon ankommen. Das kann man auch derart lösen, dass man alle Signale von ANT+ auf Bluetooth "übersetzt". Hier wirds auch im Internet und in Foren etwas technischer, ein eleganter Weg bietet sich jedoch durch den Bluetooth-Herzfrequenzgurt der Firma 4iiii, der gleichzeitig als derartige "Bridge" fungiert.
Genug der Technik, rauf aufs Rad!
Lassen wir Bilder sprechen (Screenshots vom iPhone 6):
Sonst noch etwas?
Ja! Einige kleine "Besonderheiten" gibt es doch noch zu berichten!
Die App ist ein Stromfresser! Verständlich, jeder weiß was passiert, wenn das Display einmal längere Zeit aktiv ist und zusätzlich noch Bluetooth permanent Signale empfängt. Innerhalb von knapp 20 Minuten waren bei mir rund 30% des iPhone-Akkus verbraucht. Wer also vorhat, längere Einheiten zu absolvieren, sollte sich um eine entsprechende Stromversorgung kümmern. Am iPad würde ich erwarten, dass das Ganze noch etwas gravierender ausfällt.
Wenn wir schon vom iPad reden... Dieses ist noch besser für Zwift geeignet als das iPhone. Während das Ganze auf dem Telefon-Bildschirm doch noch etwas nach Mäuse-Kino aussieht, entfaltet sich das Ganze auf dem iPad zu voller Pracht. Auch die Auflösung - ihr seht es an den Screenshots oben - ist auf dem iPad (und auch schon dem iPhone Plus) signifikant besser.
Wer es noch größer haben will und - so wie ich - im Apple-Universum zuhause ist, kann sich via AppleTV den Telefon- oder Tabletinhalt direkt auf den Fernseher streamen (oder eigentlich spiegeln) lassen.
Deswegen die Desktop-Version von Zwift völlig aus den Augen zu verlieren, halte ich jedoch für voreilig. Soweit ich das bis jetzt überblicken kann, gibt es derzeit (noch?) keine Möglichkeit, am iPhone oder iPad eigene Workouts zu erstellen - eine Funktion, die ich in der Desktop-Variante immer wieder gerne nutze. Und andere Kleinigkeiten wie beispielsweise das Eingeben von Freischalt-Codes für Trikots funktioniert derzeit auch nur am Desktop.
Ein wesentlicher Fortschritt in der Bluetooth-Technologie (gegenüber ANT+) ist für mich im "ERG"-Mode erkennbar. Das ist jener Zustand, in dem die Rolle den Widerstand selbstständig für ein Training oder auf einen gewissen Wattwert festlegt. Dieser "ERG"-Mode ist via Bluetooth merklich feiner, reaktiver und genauer! Während es via ANT+ manchmal kurzzeitig schwierig ist, den gewünschten Wattwert zu treffen, reagiert die Rolle über Bluetooth um einiges besser und schneller. Das ist eine erkennbare Verbesserung der Bluetooth-Version!
Bleibt für mich noch die Frage der Halterung für das Telefon oder Tablet. Es gibt von Tacx einen Schweißfänger, der eine Telefontasche integriert hat (nicht das Schönste, was man je gesehen hat), zahlreiche Halterungen bieten die Möglichkeit, die Devices an Lenker oder Vorbau anzuschrauben und es gibt - finde ich sehr spannend - Handyhüllen, die unten beispielsweise einen Adapter für eine Garmin-Halterung haben. Bleibt dann nur noch das "Problem", dass an dieser Stelle der Hauptteil des vorhin schon angesprochenen Schweiß-Sturzbaches vorbeirinnt...
Fazit
Die iOS Version von Zwift ist kein Ersatz für die Desktop-Version sondern eine Ergänzung. Wer seinen Computer nicht extra hochfahren will, keinen ANT+ Dongle hat oder sich immer und überall mit der Rolle aufbauen können möchte, für den ist Zwift auf dem portablen Device ideal. Der Funktionsumfang ist gleich, die Idee von Zwift und das, was es einzigartig macht, findet man auf dem iPhone und iPad genauso! Absolut positiv ist für mich, dass der ERG-Mode besser und schneller reagiert als bei der Übertragung über ANT+.
Ausprobieren und selbst ein Urteil bilden! Wir sehen uns auf der (virtuellen) Strecke!