Es gibt Runden, die sind einfach etwas besonderes! Die Dachstein-Umrundung zum Beispiel, jede Auffahrt auf den Glockner hat auch etwas - entschuldigt die Wortwahl - "episches", und Routen, die aus größeren oder kleineren Rennen bekannt sind, haben auch etwas Besonderes an sich. Im Fall der Lesachtal-Runde kommt für mich dazu, dass der Start- und Endpunkt der Runde üblicherweise in Lienz liegt, der Sonnenstadt Österreichs, Hauptstadt Osttirols und meiner zweiten Heimat.
Die Lesachtal-Runde ist jedes Jahr Schauplatz der Dolomitenradrundfahrt, einer Institution unter Österreichs Radsportveranstaltungen. Am 10. Juni 2018 geht sie immerhin schon zum 31. Mal über die Bühne - nicht viele andere Events können auf eine derartige Tradition zurückblicken. Auch die Strecke des Race Around Austria führt unweigerlich durch das Lesachtal, bildet die Bundesstraße 111 doch den südlichsten Verkehrsweg entlang der österreichisch-italienischen Grenze.
Am Programm stehen gut 110 Kilometer mit rund 1.600 Höhenmetern und eine riesige Portion Natur, Schönheit und auch Anstrengung.
Lienz - Oberdrauburg
Start der Dolomitenradrundfahrt ist traditionell vor dem Bahnhof Lienz. Dort bietet sich viel Platz für die Aufstellung, dementsprechend geräumig ist auch die Platzsituation auf den ersten Metern des Rennens. Es geht auf der Bundesstraße von Lienz ostwärts, am Kreisverkehr in Nußdorf wird ausnahmsweise nicht links Richtung Glockner abgebogen, es geht geradeaus weiter aus Lienz hinaus.
Die nächsten zwanzig Kilometer bis Oberdrauburg bieten an sich nicht allzu viel Spannung. Im Rennen gilt es, mit einer guten Gruppe mitzurollen und energiesparend vorwärts zu kommen.
Fährt man nicht im Rahmen der Dolomitenradrundfahrt, stellt der Verkehr auf der B100 die größte Herausforderung dar - es handelt sich hier ja mehr oder weniger um eine Transitroute. Auch wenn der Talboden an dieser Stelle recht eng ist, bieten sich doch mehrere Möglichkeiten, der Bundesstraße zu entkommen. Die angenehmste Variante ist aus meiner Sicht die Ausfahrt aus Lienz über Amlach, Tristach und Lavant - hier fährt man südlich der Drau über ruhige und wunderschöne Straßen Richtung Kärntner Tor, nicht auf der Direttissima wie auf der Bundesstraße aber dafür schön eingebettet, mit den Lienzer Dolomiten, die eindrucksvoll über der rechten Schulter des Fahrers trohnen. Nach Lavant muss man sich entscheiden, ob man doch ein paar Kilometer auf der Bundesstraße in Kauf nehmen möchte oder aber den Drauradweg benützt. Dieser ist bis auf einen kurzen Abschnitt asphaltiert, auch der Gravel-Teil ist aber mit einem Rennrad durchaus zu bewältigen. In meiner persönlichen Variante fahre ich aber trotzdem beim Bahnhof Nikolsdorf auf die Bundesstraße, die paar Kilometer im Verkehr halte ich für verkraftbar.
Das Schlagloch auf der Bundesstraße zwei Meter hinter dem "Willkommen in Kärnten"-Schild wurde übrigens in der Zwischenzeit behoben. Es war bei jeder Ausfahrt und vor allem auch im Rennen ein Spaß, derart von Kärnten begrüßt zu werden und in der großen Gruppe reihenweise die Schultern einknicken zu sehen und die dazugehörigen Flüche zu hören...
Oberdrauburg - Gailbergsattel - Kötschach-Mauthen
In Oberdrauburg angekommen biegt man rechts von der B100 ab, überquert die Drau und steht direkt am Beginn des Anstiegs zum Gailbergsattel. Rund 300 Höhenmeter wollen hier überwunden werden, auf knapp sechs Kilometern reiht sich Kehre an Kehre. Die Steigung ist verhältnismäßig angenehm mit durchschnittlich 6%, da kommen im Lesachtal noch andere Kaliber auf den Fahrer zu. Die Geraden zwischen den Kehren sind recht kurz, die Ausblicke zurück in den Lienzer Talboden beeindrucken - so ergibt sich eine recht kurzweilige Auffahrt auf den Gailberg.
Nach gut 20 Minuten hat man den ersten Kulminationspunkt erreicht, es folgen rund sechs Kilometer Abfahrt nach Kötschach-Mauthen. Die Abfahrt ist etwas unrhythmisch, das Gefälle irgendwie nicht groß genug, als dass es von alleine so richtig rollen würde. Nach der Ortsdurchfahrt von Laas folgen zwei kurze 180-Grad-Kehren, ehe man - in Kötschach-Mauthen angekommen - rechts Richtung Lesachtal abbiegt.
Der Belag in der Abfahrt wurde glücklicherweise ausgebessert bzw. erneuert, sodass man sich um die strukturelle Integrität seines Rades keine Sorgen (mehr) machen muss.
Lesachtal
Willkommen im Kernstück der Runde und dem namensgebenden Teil der Route. Wer sich das Strava-Segment ansieht, dem wird ob der nackten Zahlen höchstens ein Schmunzeln über die Lippen huschen - 42,3 Kilometer mit durchschnittlichen 2% Steigung, das soll alles sein? Bevor man jedoch zu laut lacht, sollte man sich das ganze nochmal im Detail ansehen. Das Lesachtal - übrigens die Verlängerung des Kärntner Gailtals und in Osttirol heißt es dann wieder Tiroler Gailtal - ist kein konventioneller Anstieg. Auf gut 40 Kilometern sind 900 Höhenmeter zu bewältigen, die durch nicht weniger als 19 Zwischenabfahrten unterbrochen sind.
Gleich nach der Ortsausfahrt von Kötschach-Mauthen geht es mit gut 10 Prozent hinauf Richtung Gentschach. Die Straße wird unmittelbar sehr schmal und windet sich um enge Kurven, durch enge Einschnitte und zwischen Häusern hindurch. Schnell wird klar, was hier die nächsten Kilometer auf einen zukommt. Die Chronologie könnte ungefähr so aussehen: enge, steile Kehren - Hochprozentiges - Ausblick auf die Berge - entlang der Hangkante rechts herum - kurzer Anstieg in eine kleine Ortschaft - höchster Punkt zwischen zwei Hofgebäuden - kurze, steile Abfahrt - Rechtskurve in einen kleinen Taleinschnitt - Brückenüberfahrt - unvermittelt sofort wieder steiler Anstieg - und wieder von vorne. Dieses Muster wiederholt sich nunmehr einige Male, die ersten Male noch mit Bewunderung für die Landschaft und Verwunderung ob der engen Straßen. Mit zunehmender Wegstrecke macht sich aber die Anstrengung bemerkbar, die notwendig ist, um diese Topologie erfolgreich unter die Räder zu bringen.
Punktuelle Spitzen mit 15 % wie beispielsweise hinauf nach Strajach tragen ihren Teile dazu bei, dass die Beine schmerzen. So kunstvoll die Kehren hier in den Hang geschlagen sind, so großartig ist der Ausblick Richtung Süden, wo sich die Hohe Warte - der höchste Punkt des Lesachtals direkt auf der österreichisch-italienischen Grenze - auftürmt.
So kämpft man sich Kilometer für Kilometer durch das Lesachtal, hin- und hergerissen zwischen Entzückung und Ermüdung, Staunen und Raunen, erstem Gang und großem Blatt. Alle 200 Meter erinnert die Markierung auf der Asphaltoberfläche daran, dass man noch einen weiten Weg vor sich hat, bis man am höchsten Punkt der Runde angelangt ist.
Ein Wort ist auf jeden Fall über den Straßenzustand im Lesachtal zu verlieren. Die Oberflächen sind teilweise in einem desaströsen Zustand, sodass ein Crosser an manchen Stellen wie die bessere Wahl erscheinen mag. Die Gründe dafür sind unterschiedlich und es wäre zu einfach, alle Schäden auf mangelnde Instandhaltung (infolge mangelnder Ressourcen Kärntens) zu schieben. Jeder der sich durch das Lesachtal bewegt, merkt, dass man in einer besonderen Region unterwegs ist. Ebenso besonders ist hier das Wetter, sind die Winter und die Herausforderungen, die das Leben hier bietet. Die Straßen sind daher in erster Linie durch Felsstürze, Frostschäden und Spuren von Schneeketten geschunden. Eine gute Fahrtechnik kann hier keinesfalls schaden, ein Großteil der Schäden befindet sich jedoch in den ebenen bzw. ansteigenden Streckenabschnitten, sodass diese allenfalls lästig aber meistens nicht sicherheitsrelevant sind.
Man lässt Sankt Lorenzen und Maria Luggau hinter sich, durchfährt Untertilliach und steht nun einem der Scharfrichter der Runde gegenüber. Wiederum lesen sich die Daten des Aufstiegs unspektakulär: 4 Prozent auf 4 Kilometer. Der Anstieg von Unter- nach Obertilliach ist eher eine Geschichte, die sich im Kopf abspielt. Man ist seit gut 30 Kilometern auf und ab unterwegs, die Beine sind an dieser Stelle nicht mehr allzu frisch. Bei Untertilliach weitet sich die Landschaft plötzlich und man findet sich auf einer langen breiten Straße wieder, die hinauf nach Obertilliach führt. So breit, dass gefühlt nicht wirklich was weitergeht, trotzdem zu steil, um hier noch richtig fest zu drücken. Ein letaler Cocktail, der zu einer Bewährungsprobe wird - immer wenn man hier fährt, egal ob im Rennen oder "einfach so". Obertilliach ist die vorletzte Prüfung auf dem Weg durchs Lesachtal - wer hier seine Tanks schon komplett leert, der wird noch ein Problem bekommen.
Während Obertilliach nämlich die letzte Ortschaft und irgendwie der letzte "Waypoint" ist, fehlen bis zum höchsten Punkt - dem Kartitscher Sattel - noch zwei Kilometer und gut 100 Höhenmeter. Es geht in eine letzte kurze Zwischenabfahrt bevor es auf den 1.530 Meter hoch gelegenen "Gipfel" der Runde geht. Nach gut 1,5 Stunden durch das Lesachtal ist mit dem Kartitscher Sattel der höchste Punkt der Runde erreicht, mit viel Mühe und Schweiß.
Kartitsch - Tassenbach
Acht Kilometer lang ist die Abfahrt vom Kartitscher Sattel bis hinunter ins Pustertal. Acht Kilometer auf denen man sich aber nicht so richtig von den gerade erlebten Strapazen erholen kann. Die Abfahrt erfordert auf jedem Meter die volle Aufmerksamkeit des Fahrers, sei es wegen schlechten Untergrundverhältnissen, Ortsdurchfahrten oder den schnellen Kehren im unteren Teil. Die Müdigkeit sollte einen hier nicht übermannen - zu hoch ist hier das Tempo, als dass man sich irgendwelche Unachtsamkeiten leisten sollte.
Tassenbach - Pustertal - Lienz
In Tassenbach biegt man rechts auf die Bundesstraße 100 ein, die von Italien kommend zurück Richtung Lienz führt. An sich geht es von hier nur noch bergab - eigentlich! Denn es wartet noch eine letzte kleine Prüfung - ein knapper Kilometer mit 70 Höhenmetern auf der Bundesstraße. Im Freizeitmodus fährt man hier gemütlich hinauf, im Wissen, dass man es danach geschafft hat. Im Rennen hingegen tun diese wenigen Meter und Höhenmeter noch einmal richtig weh, geht es doch darum, für die anschließenden schnellen Kilometer nach Lienz eine gute Gruppe zu finden oder zu halten.
Ab diesem Zeitpunkt geht es hinunter oder zumindest nicht mehr bergauf. Wie zu Beginn findet man sich hier auf einer vielbefahrenen Bundesstraße wieder. Wer - wie ich - ausreichend innere Ruhe mitbringt, der kann ohne Probleme trotz Verkehr auf der Bundesstraße Richtung Lienz rollen. Das Tempo ist dank des Gefälles eher hoch (35-40 km/h), die Anstrengung im Freizeitmodus eher gering. Im Rennen wird hier noch einmal auf Teufel komm raus gebolzt, bis ins Ziel in der Lienzer Innenstadt.
Wer die Bundesstraße meiden möchte, hat zwei Optionen. Option 1 ist der Drauradweg, der vollständig asphaltiert entlang des Flusses Richtung Lienz führt. Im Sommer, bei gutem Wetter und in den Ferienmonaten sei von der Benützung des Radwegs allerdings dringend abgeraten. Horden italienischer Radtouristen sind da von Innichen hinunter nach Lienz unterwegs, ehe sie mit dem Zug zurück nach Italien gebracht werden.
Bonus: Pustertaler Höhenstraße
Option 2 ist landschaftlich ein Traum, aber für die Beine nach dem Lesachtal ein potentieller Albtraum - die Pustertaler Höhenstraße. Nach der Einmündung auf die B100 im Pustertal führt in Abfaltersbach eine Abzweigung auf die nördliche Hangseite, hinauf zur Pustertaler Höhenstraße. Von der Charakteristik her eigentlich vergleichbar mit dem Lesachtal - steil, pittoresk und gespickt mit einer Vielzahl von Gräben und Einschnitten. Die Dolomitenradrundfahrt führte bis vor wenigen Jahren als Finale über diese Höhenstraße, auch die Tour of the Alps (ehemals Giro del Trentino) hatte schon eine Ankunft hier oben. Wer die Beine dafür hat: schöner kann man den Verkehr auf der Bundesstraße nicht umgehen. Wer müde Beine hat: gemütlich auf der B100 Heimrollen und an einem anderen Tag nur für die Höhenstraße wiederkommen!