Es muss 2017 oder 18 gewesen sein, als ich in Osttirol einmal von einer Ausfahrt zurück zum Haus meiner Schwiegereltern gekommen, voller Elan auf die Garage zugegangen bin und dabei die Höhe unter- (oder besser gesagt die nicht vorhandene “Clearance”) des Garagentors unterschätzt habe. Es machte einen gröberen Knall und mein Helm hatte eine tiefe Macke vom Garagentor. Klein genug zwar, dass man den Helm nicht auf den ersten Blick entsorgen müsste aber doch so groß, dass man darüber nachdenkt, wie es weitergeht. Und dabei war mir der Look meines POC Octal viel wert, sah ich im Spiegel doch immer aus wie einer dieser Super-Pilze aus Super Mario!
Ablaufdatum!
Seitens Helm-Industrie wird geschlossen darauf hingewiesen, dass ein Helm nach einem Sturz ausgetauscht werden soll. Ebenso besitzt ein Helm jedoch ein Ablaufdatum, nach diesem - auch ohne Zwischenfall - ein Austausch ansteht. Wühlt man sich durch die Homepages der Hersteller und Beipackzettel erhält man ein doch überraschend einheitliches Bild:
Die hier aufgelisteten Hersteller empfehlen, einen Helm nach 3 bis 5 Jahren auszutauschen. Wichtig ist dabei allerdings, dass dieser Zeitraum erst mit der Nutzung des Helms beginnt. Damit sind Lagerungen beim Hersteller, bei Zwischenhändlern und in Shops nicht relevant. Die Uhr beginnt erst zu ticken, wenn der Helm ausgepackt, aufgesetzt und eingesetzt wird. Dann ist er nämlich der Witterung ausgesetzt, Temperaturschwankungen, Schweiß, UV-Strahlung, Vibrationen und Erschütterungen. Diese Faktoren werden ab diesem Zeitpunkt an der Lebensdauer des Helms knabbern und sukzessive dessen Schutzwirkung reduzieren.
Degradation
Ich bin in der Materialkunde nicht genug bewandert, um den Unterschied zwischen EPS und Styropor zu benennen. Faktum ist, dass dieses sogenannte “expandierte Polystyrol” (kurz EPS) dazu da ist, unseren Kopf bei einem Aufprall zu schützen. EPS dämpft einen Schlag ab und verteilt die dabei auftretende Energie auf eine möglichst große Fläche, dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit von Kopfverletzungen. Zusatzsysteme wie MIPS oder SPIN ändern an dieser Grundfunktion im wesentlichen nichts, es handelt sich dabei vielmehr um ergänzende Features, die mehr Schutz bei schrägen Einschlägen bieten sollen. Wir erinnern uns an die Sendung mit der Maus: Da ist die Melone im Fahrradhelm immer senkrecht von oben heruntergefallen. Die Realität hält sich - sofern dieser Fall überhaupt eintritt, wir hoffen es nicht! - selten an derartige Regeln, daher machen ergänzende Schutzfunktionen in meinen Augen durchaus Sinn.
EPS hat aber leider auch die Eigenschaft, nicht UV-stabil zu sein und bei Lichteinwirkung langsam aber doch zu verspröden. Aus diesem Grund haben alle Helme eine Kunststoffschicht, die über der eigentlichen EPS-Lage angebracht ist. Aber auch von innen - und dort gibt es keinen Schutz für das arme EPS außer ein paar gepolsterten Riemen - setzen wir beispielsweise mit unserem Schweiß dem Material zu. So oder so ist das Ergebnis, dass sprödes und unelastisch gewordenes EPS seine Dämpfungseigenschaften einbüßt und damit unserem Kopf bei Stürzen nicht mehr den vollen Schutz bieten kann.
Schäden durch UV-Licht sind mit freiem Auge unmöglich zu erkennen, dementsprechend ist es schwer, eine Aussage darüber zu treffen, wie sehr der eigene Helm eventuell schon in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ein Tipp der Hersteller ist die Lagerung des Helms in einem Stoffbeutel, der oft sogar mit dem Helm mitgeliefert wird. Mea maximal culpa - ich habe die Stoffbeutel meiner Helme noch nie verwendet.
Bei der Recherche für diesen Blogbeitrag bin ich ab und zu auch über Fälle gestoßen, in denen Schnallen und Riemen Probleme verursacht haben. Defekte Schnallen, nicht (mehr) funktionierende Schließsysteme am Kinnriemen oder Schäden am Innenleben der Helme (den Verstell-Riemen) können natürlich auch im Laufe der Zeit auftreten, allerdings hatte ich persönlich noch keine derartigen Probleme und kenne auch keine aus meinem Freundeskreis. Aber auch hier gilt: etwas Pflege und eine regelmäßige Kontrolle der Funktionen und Bestandteile sorgt üblicherweise für eine etwas längere Lebensdauer der Komponenten.
Sturz
Im Gegensatz dazu ist ein Helm sofort auszutauschen, wenn man damit gestürzt ist. Sind Teile des Helms zerbrochen, bei tiefen Rissen oder wenn die strukturelle Integrität des Helms in irgendeiner Art und Weise nicht mehr gewährleistet ist, muss ein neuer her. Schwieriger wird es allerdings, wenn die Schäden nicht ganz so offensichtlich sind. Laut Herstellern ist der Helm auch zu tauschen, wenn nur ein kleinerer Sturz passiert ist oder aber auch wenn dieser von der Garderobe auf den Fliesenboden heruntergefallen ist. In solchen Fällen sind die Schäden oft nicht erkennbar aber Mikrorisse im EPS können die Stabilität des Gesamtsystems beeinträchtigen. Ich verstehe den Aufschrei, gut 100-200 Euro “in den Wind zu schießen”, nur weil der Helm einmal auf den Boden gefallen ist. Und letztlich bleibt es auch eine individuelle Entscheidung, den Helm auszutauschen oder weiter zu benützen. Manch eine*r mag eine gefinkelte (und aufgrund der Einhelligkeit der Angaben auch konzertierte) Aktion der Helmindustrie sehen, andere eine Übervorsichtigkeit oder Überbehütung. Ich für meinen Teil habe beschlossen - glücklicherweise ohne dafür einen Anlassfall zu brauchen - dass mir mein Leben und meine Gesundheit dieses Geld wert sind.
Zersägen!
Dennoch wollte ich den Dingen noch etwas weiter auf den Grund gehen und in meinen Helm “hineinschauen”. Das Gerede von Mikrorissen, unsichtbaren Schäden und Materialermüdung, die man nicht erkennen kann, ist für einen grundsätzlich neugierigen Menschen wie mich unbefriedigend. Den eingangs erwähnten POC Octal habe ich nach dem Garagentor-Kontakt damals nicht weggeworfen - ein perfektes Anschauungsobjekt also für einen Helm, den man eigentlich entsorgen müsste. Und nachdem der neue und schicke POC Omne Air wundersamerweise auf die Garderobenseite meiner Freundin gewandert ist, konnte ich auch ihren alten Stadthelm als Versuchsobjekt heranziehen.
Zwei Helme also - einer beschädigt und einer über die Empfehlung des Herstellers hinaus alt -, denen ich mit der Säge zuleibegerückt bin. Die laue Nachmittagsstimmung wird von einer kreischenden und schreienden Geräuschkulisse zerschnitten, es schmerzt in den Ohren als sich das Sägeblatt langsam durch die obere Kunststoffabdeckung arbeitet. Während das EPS nachher ein Klacks für die Säge sein wird, stellt die obere Schicht ein tatsächliches Hindernis dar - hier hätte ich weniger Widerstand erwartet.
Ich nehme bei beiden Helmen die Mitte ins Visier, beim POC möchte ich mit der Säge außerdem jene Stelle erwischen, die ich damals am Garagentor etwas eingedellt habe. Es gilt herauszufinden, ob das Material dort irgendwie anders aussieht als an den unbeschädigten Stellen. Durch das EPS flitzt die Säge nur so durch, beim POC aufgrund der zahlreichen Belüftungsschlitze noch etwas schneller. Am Ende liegen zwei Helme in jeweils zwei Teilen vor mir. Der Gedanke, dass so ein Szenario nicht mutwillig durch eine Säge, sondern auf anderem Wege herbeigeführt werden könnte, ist wenig erbaulich und verschwindet schnell wieder im Hintergrund.
Auf den ersten Blick sind die Erkenntnisse meiner Säge-Aktion enttäuschend. Weder sind - rein optisch - große Unterschiede zwischen dem 60 Euro Stadthelm und dem 240 Euro Rennradhelm erkennbar, noch sichtbare Beeinträchtigungen an der eingedellten Stelle des POC. Auch finde ich keinerlei Hinweise auf mögliche Alterungserscheinungen des in die Jahre gekommenen Stadhelms. Bei näherer Betrachtung erkennt man minimale und feine Unterschiede in der Struktur des EPS, manche der einzelnen “Punkte” oder Zellen liegen hier näher beisammen oder wirken etwas komprimierter, da wo der Schaden aufgetreten ist. Ich versuche noch, mit allerlei Werkzeug und Einwirkung den einen oder anderen Effekt herbeizuführen oder eine Reaktion des Materials zu verursachen, aber es tut sich nicht allzu viel. Auch zerschnitten haben das Material und die restliche Konstruktion noch eine erstaunliche Stabilität und Härte.
Gut, ich bin nicht der TÜV, ein Messlabor oder eine andere geeichte, genormte und wissenschaftlich akkredierte Stelle. Ich kann mich gut und gerne damit zufriedengeben, dass ich aus diesem Versuch keine großartigen Erkenntnise gewonnen habe. Die Spannung, den Helm zu zerschneiden und die Freude am Experiment waren trotzdem da. Ich vertraue auf die Erkenntnisse der Hersteller und das Know-How der Materialwissenschafter und konzentriere mich auf das, was mir mehr Spaß macht - das Radfahren.
Epilog
Drei Dinge bleiben noch zu erwähnen, bevor wir uns wieder auf den Sattel schwingen und die Helme in der freien Wildbahn ausführen.
Modifikationen
Es klingt immer etwas oberlehrerhaft und ist einer jener Teile, die man in Gebrauchsanweisungen immer besonders gerne und schnell überblättert: Modifikationen am Helm führen grundsätzlich und so gut wie immer zu einem Verlust der Garantieleistung aber auch zu einer potentiellen Minderung der Schutzwirkung. Sachen auszuschneiden, umzubauen, auszuhöhlen, zu verschlimmbessern oder irgendwie anders zu verändern, ist in den meisten Fällen keine allzu gute Idee.
Etwas weniger “dringlich” ist der Hinweis, möglichst auf Aufkleber und dergeichen zu verzichten. Diese haften aufgrund des darin enthaltenen Klebstoffes, dieser kann natürlich die Oberflächen und Materialen des Helms entsprechend beeinträchtigen. Ausnahme sind Pro-Tour-Teams - die verwenden ihre Helme in der Regel aber auch nicht 3-5 Jahre.
Bleibt die Frage der montierten Action-Cams. Bei einem Sturz können diese schwere Verletzungen verursachen oder verstärken, da an jenen Stellen nicht der stoßmindernde EPS-Schaum sondern ein spitzer oder zumindest klobiger Gegenstand den Kontaktpunkt bildet. Am Rennrad sieht man Action-Cams aber ohnehin nicht so oft - erstens kostet der zusätzliche Luftwiderstand mindestens 2,39 Watt, zum anderen hält sich am Renner auch oft die aufzuzeichnende “Action” in Grenzen. (OK, ich halte mich hier auch nicht immer daran, bevorzuge aber die Freihand-GoPro-Haltung oder den Brustgurt).
Kennzeichnung
Um das Produktionsdatum eines Helmes zu finden, sucht man üblicherweise auf der Innenseite des Helms die diversen Aufkleber ab, bis man - neben Zertifikaten, Hinweisen, Firmenlogos und Gütesiegeln - auf das gesuchte Datum stößt. Bei teureren Modellen sind daneben üblicherwese noch Helmtyp, Größe und Gewicht vermerkt. Ein Blick auf die Homepage des Herstellers ist auch nie falsch.
Entsorgung
Ein spannender Punkt, zu dem ich im Zuge meiner Recherchen nur Probleme aber keine Lösungen gefunden habe, ist die Entsorgung alter Helme. Bei einem theoretischen Austausch aller Helme alle drei Jahre, kommen erkleckliche Mengen an Material zusammen und im Moment landen diese im Restmüll.
Recyclingmethoden gibt es zwar grundsätzlich, ebenso eine Hand voll Unternehmen, die derartige Prozesse grundsätzlich übernehmen würden. Allerdings steht der Nutzen des Recyclings des EPS-Materials (noch) in keiner Relation zum Aufwand, der angesichts der vergleichsweise geringen Menge an Material entsprechend hoch ist.
Am Lebenszyklus der Produkte kann man nur bedingt schrauben - wenn ein Helm ausgetauscht gehört, muss er ausgetauscht werden. Vielleicht finden die Hersteller gemeinsam Lösungen, die hier bessere Antworten geben können!