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Traveling without moving

Ich bin recht viel unterwegs, hauptsächlich in Österreich - privat und beruflich, mit dem Zug und dem Auto, von rechts bis links, von oben bis unten. Die eine Erkenntnis daraus ist, dass ich mich glücklich schätzen kann, so ein Fleckchen Erde bewohnen zu dürfen. Schaut man etwas genauer hin und lässt sich auf die Gegenden ein, findet man so gut wie überall etwas Schönes oder Besonderes.

Nun habe ich mir über die letzten Jahre angewöhnt, die Welt durch eine Fahrrad-Brille anzusehen. Auch wenn ich nicht am Rad sitze, sehe ich daher überall potentielle Routen, Straßen und Spots. Während also die Bahnfahrt über den Semmering eine gefühlte (und auch tatsächliche) Ewigkeit dauert, lehne ich den Kopf an das Fenster und stelle mir vor, auf dem Wanderweg neben den Gleisen mit dem MTB zu fahren. Im Murtal nahe Judenburg führt eine Schotterstraße parallel zur Bahntrasse, die mir auch schon öfters aufgefallen ist. Mal verläuft sie neben der Bahn, dann verschwindet sie im Wald, dann schmiegt sie sich wieder an die Geleise, wechselt bei einer Unterführung die Seite, sodass ich sie kurz aus den Augen verliere bis sie plötzlich wieder vor meinem Fenster auftaucht.

Kurz vor Kraubath führt parallel zur Schnellstraße eine Bundesstraße durch das Murtal, eigentlich recht unspektakulär am Waldrand entlang durch die Landschaft. Bei Kraubath klingelt es aber in meinem Hirn - Christoph Strasser ist hier aufgewachsen - und schon denke ich mich auf einen Zeitfahrer und spule Kilometer für Kilometer auf dieser neben mir liegenden Bundesstraße ab. Wie großartig es sich auf den Bundesstraßen fahren lässt, die parallel dazu eine Schnellstraße oder Autobahn dazu gebaut bekommen haben, konnte ich bereits öfters am eigenen Leib erleben.

Im Drautal wiederum kann man aus dem Zugfenster die hoch gelegenen Höfe oder Siedlungen erahnen, die über kurze und meistens unmenschlich steile Stiche erschlossen sind. Wie es wohl dort oben aussieht, was folgt dahinter, kann man dort mit dem Rad fahren?

So oder so ähnlich sehe ich die Welt, durch die ich mich bewege und ich könnte noch hundert weitere Beispiele anführen, die ich sofort benennen und auch verorten kann. Dass mein Hirn dementsprechend voll ist mit derartigen Informationen und ich mir deswegen bestimmte andere Dinge nicht gut merken kann, das ist eine andere Geschichte... ;)

Was ich unterwegs sehe, versuche ich oft - zuhause am Computer - wiederzufinden, zu verifizieren, ob die Straße auch auf der Karte so lieblich aussieht wie das kurze Stück, das man unterwegs aufgeschnappt hat. Oder es geht schlicht und ergreifend darum, herauszufinden, wohin dieser Weg überhaupt führt. Auf diese Art und Weise hat sich in meinem Gehirn ein unzusammenhängendes, unstrukturiertes und zufälliges Netz an Wegen gebildet, das in mir das dringende Bedürfnis weckt, aufs Rad zu steigen und alle diese Wege abzufahren. Ob es jemals dazu kommen wird, ist eine andere Geschichte - aber dieses Netz existiert einmal.

Schreibtischtäter

Es erfüllt mich mit Glück und Zufriedenheit, abends, untertags oder auch kurz zwischendurch eine Karte auf dem Bildschirm aufzurufen und mich dort umzusehen. In der Wohnung meiner Mutter und dem Haus meiner Schwiegereltern liegt ein großer Atlas auf - immer in Griffweite, um dieses oder jenes nachzuschlagen. Waldbrand auf Sumatra? Dort! Unruhen im Südsudan? Da! Unwetterschäden im Mölltal? Hier! Für die einen mag es unnützes Wissen sein oder zumindest eines, das keinen nachhaltigen Bestand oder Nutzen hat. Für mich ist es mehr und vor allem ist es eine Art des Reisens - und das meine ich einerseits überhaupt nicht esoterisch und andererseits auch nicht im Sinne von Fantasiewelten eines Peter Pan oder einer Alice im Wunderland. So wie es für mich als Kind schon spannend war, ein Lexikon zu „lesen“, so sind es heutzutage die Karten, die mich schnell und unmittelbar in ihren Sog ziehen. Und das Radfahren hat mir dabei geholfen, neue Kategorien von Wegen wahrzunehmen - in der Realität und als Folge davon auch auf Karten. Während man (Auto)reisen eher anhand höherrangiger Wege plant, lenkt das Rad die Aufmerksamkeit auf die schönen Straßen, die kleinen Wege, die pittoresken Landschaften.

Und so finde ich mich wieder und tippe auf Straßen, setze Wegpunkte auf Routen, definiere Zwischenziele und betrachte Höhendiagramme. Das Werkzeug ist dabei variabel. Der physische Atlas in Kombination mit dem enzyklopädischen Wissen, der Erfahrung und den Anekdoten meines Schwiegervaters hat natürlich eine andere Qualität als Google Maps. Strava bietet Heatmaps und damit die kollektiven Erinnerungen einer weltweiten Community. Komoot setzt noch eins drauf und spielt zusätzliche Informationen in die Karten. Schön auch die Seite mit dem klingenden Namen „Quäl dich“, die sämtliche Aufstiege und Pässe in Europa mit Diagrammen, Fotos und Erlebnisberichten auflistet.

Traveling without moving

Auf diese Weise habe ich schon unzählige Ausfahrten absolviert und die Strecken, die ich mir da zusammengebastelt habe, fast schon gespürt. Ich weiß, wie sich 5 Prozent Steigung anfühlen, erinnere mich, wie sich ein Untergrundwechsel auswirkt, weiß was man spüren kann, wenn man 100, 150 oder schon 200 Kilometer in den Beinen hat.

Es mag vielleicht wie eine absurde Übung klingen, mir macht es jedoch großen Spaß! Die Routen habe ich gespeichert - ergibt sich eine Gelegenheit, habe ich mit großer Wahrscheinlichkeit schon ein paar Streckenvarianten vorbereitet. Es ersetzt natürlich keine reale Ausfahrt, aber in stressigen Phasen oder wenn das Gehirn kurz vor dem Overload steht, bietet sich ein derartiger Ausflug an, um kurz abzuschalten, sich in eine positive Atmosphäre zu versetzen und die Gefühle zu spüren, die man mit dem Radfahren verbindet.

Am Ende muss ich aber ohnehin raus gehen und mich auf mein Rad setzen, immerhin möchte ich meine persönliche Strava-Heatmap weiter anfärben - es sind noch zu viele Regionen und Bereiche auf der Karte weiß. Da werd ich wohl mehr ins Schwitzen kommen, als vor dem Bildschirm...